180 Paul Eltzbacher, Der Anarchismus.
Stück Gewalt übertragen ist, werden häufig einen falschen Gebrauch davon machen. Der Staat ist
eben eine menschliche Einrichtung und mit den Mängeln alles Menschlichen behaftet.
Wie ist es nun aber mit dem Zustand, den man als etwas Besseres an die Stelle des Staates
setzen möchte? Hat er geringere Mängel, und ist er überhaupt möglich? Während der Ansrchismus
den Mängeln des Staates mit grossem Eifer nachgegangen ist, hat er sich über diese Fragen mit er-
staunlicher Leichtigkeit hinweggesetzt. Bei ihrer sorgfältigen Prüfung muss sich herausstellen, dass
der von den verschiedenen Vertretern des ideologischen Anarchismus an Stelle des Staates emp-
fohlene Gesellschaftszustand nicht etwa nur mit Mängeln behaftet, sondern völlig unmöglich ist.
roudh on möchte an die Stelle des Staates ein ungeheures Netz von freien, vertraglichen
Vereinigungen setzen. Er vergisst, dass wirklich freie Vereinigungen, denen jedes Mitglied nur kraft
seines wohlüberlegten Ermessens angehört, einzig innerhalb des Staates möglich sind. Gegenwärtig
schützt der Staat den Einzelnen gegen die Vereine, etwa den Arbeiter dagegen, dass ihn eine Ge-
werkschaft durch Drohungen zum Beitritt nötigt oder durch ihre Satzungen lebenslang an sich
fesselt oder wegen seines Fernbleibens verfolgt. In Proudhons Zukunftsgesellschaft würde der
Einzelne völlig den Vereinen ausgeliefert sein. Ein Handwerker z. B. müsste dem Verein, der in
seiner Stadt die Sicherheit des Lebens und Eigentums gewährleistete, unweigerlich angehören, die
von diesem vorgeschriebenen Beiträge leisten und sich überhaupt allen seinen Anordnungen, auch
wenn sie ihm noch so wenig gefielen, unterwerfen, denn ohne die Zugehörigkeit zu diesem Verein
wäre er ja völlig rechtlos und könnte von jedermann nach Belieben beraubt, misshandelt oder gar
getötet werden. Ebenso wäre er genötigt, auch noch einer Menge von anderen Vereinen anzuge-
hören, namentlich allen denen, deren Mitgliedschaft jener erste Verein von ihm verlangen würde.
Diese Vereine müssten sich nun aber wieder mit anderen Vereinen der gleichen Stadt und der um-
liegenden Gebiete zu umfassenden Vereinen zusammenschliessen, nicht nur zur Vermeidung von
Streitigkeiten und förmlichen Kriegen, sondern auch zur gemeinsamen Lösung von Kulturaufgaben.
So würde unser Handwerker unabhängig von seinem Willen einer ungeheuren Gemeinschaft ange
hören, die angeblich nur auf freien Verträgen beruhte, in Wirklichkeit aber nichts anderes wäre als
der heutige Staat. Die freien Vereinigungen Proudhons können nicht an die Stelle des Staates treten,
weil sie das Vorhandensein des Staates zur Voraussetzung haben. .
Nach Stirnersoll an die Stelle des Staates ein Zusammenleben treten, das darauf beruht,
dass jedermann ohne Abschliessung von Verträgen lediglich den eigenen Vorteil verfolgt. Er macht
sich nicht klar, dass wenn jeder seinen eigenen Vorteil verfolgt, es eben zum Abschluss von Verträgen
kommen muss. Denn der Vorteil jedes Einzelnen fordert, dass viele ihre Kräfte dauernd zu einheit-
lichen Aufgaben vereinigen, etwa zur gemeinsamen Erzeugung von Gütern und zu deren Austausch,
zur Verhütung von Unglücksfällen und .zur Versicherung gegen solche. Da aber die Menschen
weder Bienen noch Ameisen und nicht durch Instinkt fest an die Verfolgung gemeinsamer Ziele
gebunden sind, so ist eine solche dauernde Kräftevereinigung nur mit Hilfe von Verträgen möglich.
Die Aufforderung Stirners, ohne Abschliessung von Verträgen den eigenen Vorteil zu verfolgen, ist
deshalb unausführbar. Ein Gesellschaftszustand, bei dem dies der Fall ist, kann nicht an die Stelle
des Staates treten.
Nach Godwin und Tolstoj endlich soll der Staat durch ein Zusammenleben ersetzt
werden, bei welchem jeder ohne Abschliessung von Verträgen sich nur von der Nächstenliebe oder,
was dasselbe ist, von dem Gedanken an das allgemeine Wohl leiten lässt. Beide übersehen, dass die
Nächstenliebe nur eine Pflicht der Menschen ist, aber nicht ihre herrschende Eigenschaft. Es
lässt sich nicht erwarten, dass die Menschen sich jemals allgemein von der Nächstenliebe leiten
lassen werden. Die Aufforderung Godwins und Tolstojs, dies zu tun, ist die Aufstellung eines Ideals
und deshalb unausführbar. Auch ein Gesellschaftszustand, bei dem jeder einzig auf Grund der
Nächstenliebe das um der Gesamtheit willen Gebotene tut, kann nicht die Nachfolge des Staates
übernehmen.
Man verkennt immer eins. Der Staat ist nicht irgendwo willkürlich gemacht worden. Überall,
wo bestimmte Bedingungen vorlagen wie feste Wohnsitze und eine dichtere Bevölkerung, ist er von
selbst geworden. Gelänge es, ihn vorübergehend zu beseitigen, so würde er, eben weil diese Be-
dingungen dauernd gegeben sind, alsbald wieder zur Entstehung kommen. Der Staat lässt sich