Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

184 Franz W. Jerusalem, Zentralisation nnd Dezentralisation der Verwaltung. 
erstenmal einen monumentalen Ausdruck in der Magna Charta von 1215; hier ist bestimmt, dass 
das Königsgericht nicht mehr dem im Lande umherziehenden Hofe folgen, sondern einen festen 
Sitz haben solle, dass ferner die Gerichtstage (Assizes) durch reisende Richter im ganzen Lande abzu- 
halten wären, dass endlich bei Verurteilung zu Polizeistrafen die Nachbarn bei der Festsetzung der 
Busse mitwirken müssten. Damit hatte die historische Tradition des Stammesbewusstseins bereits 
gegenüber den Zentralisationsbestrebungen des Königtums einen Sieg davongetragen. In der 
Folgezeit tritt das noch mehr in die Erscheinung. Unter Eduard III., dem grossen Reformator 
Englands, kam es zu einem neuen Kompromiss. Der Kronbesmte, der Vice-Comes, der in der 
einzelnen Grafschaft die Zentralgewalt repräsentiert, wird des grössten Teiles seiner Befugnisse ent- 
kleidet; an seine Stelle treten Friedensrichter, d. h. Männer, die in der Grafschaft angesessen sind 
und vom Könige auf Widerruf ernannt werden. Sehr bald wird die Kompetenz dieser Friedensrichter 
bedeutend erweitert. Sie werden so allmählich zu den eigentlichen lokalen Verwaltungsorganen des 
englischen Staates, deren charakteristische Aufgabe die Ausführung der Gesetze ist, 
mögen diese Common Law, Verordnungen des Königs oder die unter Mitwirkung des Parlaments 
zustande gekommenen Statuten sein; andererseitsbeschränkt sich ihre Kompetenz aber auch auf 
die Ausführung der Gesetze, was noch bis zum heutigen Tage geltender Verfassungsgrundsatz ist. 
Der Zentralverwaltung gegenüber ist der Friedensrichter untergeordnet; daraus erklärt sich zu- 
nächst die Ausbildung eines Beschwerderechtes an den König, das demjenigen zusteht, der von einer 
Verfügung des Friedensrichters betroffen ist, und zweitens die königliche Disziplinargewalt, die sich 
vor allem in der rechtlich zulässigen Möglichkeit der Entl gdes einzelnen Friedensrichters äussert. 
Das Friedensrichteramt wird auf demselben Wege für das englische Städtewesen von Be- 
deutung. Die Städte, Boroughs, die von vornherein als Exemptionen der Grafschaftsverwaltung aus 
dieser herausgehoben sind, erhalten gleichfalls zum Teil eigene Friedensrichter, zum Teil werdensieder 
Amtsgewalt der Grafschaftsfriedensrichter unterworfen. In beiden Fällen tritt eine Verkümmerung 
der bestehenden Repräsentativverfassung der Städte, im letzteren Falle sogar eine Rückbildung zu- 
gunsten des administrativen Übergewichtes der Grafschaft ein. 
Die Einheit der Grafschaften und der Städte durch die im Friedensrichteramt konzentrierte 
Lokalverwaltung war bereits vorher ausdrücklich zur Anerkennung gebracht. Seit Eduard I. war 
es nämlich üblich geworden, Delegierte der Grafschaften und Städte zu einer beratenden Körper- 
schaft, dem Parlament, zusammenzuberufen, die im Verein mit dem Great Council der weltlichen 
Barone und der kirchlichen Würdenträger alsbald einen weitgehenden Einfluss auf die Gesetzgebung, 
auf die Einkünfte des Königs und die Verwaltung erhielten. Das House of Commons war, wie Red- 
lich es bezeichnet, eine Art von Staatenhaus, das gebildet war aus den Repräsentanten der einzelnen 
Counties und Boroughs und so diesen Verbänden einen gewissen Einfluss auf die gesamte Staatsver- 
waltung gab, der sich naturgemäss steigern musste, je mehr das Parlament es verstand, den Einfluss 
der Krone zurückzudrängen und endlich, allerdings erst im Verlaufe mehrerer Jahrhunderte, völlig 
zu beseitigen. Wie dieser Prozess im einzelnen vor sich gegangen ist, kann hier nicht näher dargelegt 
werden; nur in einer Beziehung soll er näher beleuchtet werden, insoweit darin ein Moment für die 
Ausbildung der englischen Lokalverwaltung und ihr Verhältnis zur Zentralgewalt enthalten war. 
Auf Grund eines alten Verfassungssatzes, wonach jeder, also auch die Kommune und das Parlament 
das Recht hat, sich mit einer Petition an den König zu wenden, entstand allmählich die Gepflogen- 
heit, dass das Parlament in Gestalt von Petitionen die Beschwerden und Wünsche der einzelnen von 
den Mitgliedern vertretenen Counties und Boroughs vor den König brachte, der, und darin lag das 
besondere, die Erfüllung der Wünsche und die Beseitigung der Beschwerden nicht etwa durch ein- 
seitige Verfügungen oder Verordnungen veranlasste, sondern die Angelegenbeit zur Erledigung 
brachte, als ob es sich um ein Interesse des Gesamtstaates handelte, das durch Gesetz, also 
unter Beteiligung des Parlamentes, geregelt wurde. So bildete sich als Grundstein der Ver- 
fassung der Satz aus, dass alle Vorschriften, welche den einzelnen zu gewissen Leistungen oder 
Unterlassungen verpflichten, ohne Ausnahme vom Parlament beschlossen werden, also in der Form 
eines Gesetzes erlassen und wie ein solches durchgeführt werden müssen. Das Parlament erlangt 
also neben dem Recht auf Teilnahme an der allgemeinen Gesetzgebung, dessen Entwicklung hier 
nicht im einzelnen verfolgt zu werden braucht, daneben durch das Medium dieser sog. Private Bill 
Legislation auch noch einen Einfluss auf die Zentralverwaltung und wurde so allmählich zu einem
	        
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