Franz W. Jerusalem, Zentralisation und Dezentralisation der Verwaltung. 193
von Fällen ein entscheidendes Votum, in den meisten Fällen unterliegt ihre Entscheidung der Ge-
nebmigung der Regierung oder der gesetzgebenden Körperschaft. Gleiches gilt für die Gemeinde-
räte. Ihre Kompetenzen gehen auch jetzt noch nicht über Gegenstände der kommunalen Ver-
mögensverwaltung hinaus. In diesem Rahmen entscheiden sie nur ganz ausnahmsweise völlig selbst-
ständig. In allen Angelegenheiten, welche in irgend einer Weise die Finanzen der Kommune be-
treffen, bedarf jeder Beschluss der Genehmigung der Verwaltungsbehörde. Für das Budget der
Kommune besteht hinsichtlich der obligatorischen Ausgaben ein Zwangsetatisierungsrecht der zu-
ständigen Verwaltungsbehörde. Fakultative Ausgaben kann diese reduzieren oder ganz streichen.
Einen weiteren Schritt in derRichtung einer grösseren Dezentralisation der Verwaltung brachte
das zweite Kaiserreich. Ein Dekret von 1852 übertrug den Präfekten die Ernennung einer grossen
Zahl von Beamten, die bisher von der Ministerialinstanz ernannt worden waren und überliess ihnen
gleichzeitig die endgültige Erledigung einer ganzen Reihe von Verwaltungsakten, die bis dahin von
der Ministerielinstanz mit oder ohne Mitwirkung des Staatsrates erledigt worden waren. Ein Dekret
von 1861 erweiterte diese selbständigen Befugnisse der Präfekten. Eine Dezentralisation von
grösserer Tragweite lag darin aber keineswegs; es war vielmehr lediglich „deconcentration‘, ein
Wort, das von Aucoc damals geprägt wurde. Denn die Verwaltungsakte des Präfekten unierlagen
auch fürderbin den Anweisungen der Zentralinstanz, die nicht gehindert war, den Präfekten be-
züglich aller Massnahmen an ihre Anweisungen zu binden und die von dieser Möglichkeit denn auch
den weitesten Gebrauch gemacht hat. Der ganze Unterschied gegen früher bestand lediglich darin,
dass nunmehr die konkrete Erledigung vieler Verwaltungsakte durch Lokalbehörden erfolgte,
während die Zentralinstanz über die Art dieser Erledigung ihre Anweisungen erteilte. Der
Unterschied war also lediglich ein formaler. Die Unzufriedenheit mit solchen halben Massnahmen
war gross. Zwar waren der Anhänger des reinen Zentralisationsgedankens nicht wenige, die ihre Ideen
auch literarisch zu verbreiten suchten; so verteidigte Dupont-White in seinem Buche L’Individu et
PEtat das System der Zentralisation, indem er auch auf das Beispiel Englands hinwies, das seine
Verwaltung gleichfalls in dieser Richtung modifiziere. Die Mehrzahl aber war erfüllt von dem Ge-
danken der Notwendigkeit einer grösseren Dezentralisation. Besonderes Aufsehen erregte eine Rede
eines Herrn de Morny bei der Eröffnung der Sitzungsperiode des Generalrates von Puy-de-Döme im
August 1858, wo er sich gegen die bestehende Verwaltungsorganisation wandte, der es zu verdanken
sei, dass man in Frankreich keinen Stein versetzen, keinen Brunnen graben, kein Bergwerk und keine
Fabrik betreiben könne ohne die Erlaubnis und die Kontrolle der Zentralregierung. Diese Rede
eröffnete in Presse und Broschüren eine Flut von Meinungsäusserungen, die sich noch steigerte,
als im Jahre 1863 ein Handschreiben des Kaisers eine Reform im Sinne einer grösseren Dezentra-
lisation der Verwaltung in Aussicht stellte und den Staatsrat mit der Ausarbeitung von Gesetz-
entwürfen betreute. Das Resultat der kaiserlichen Initiative waren zwei Gesetze von 1866 und 1867,
die die Gedanken der Gesetze von 1837 und 1838 weiter ausbauten. Die Gesetze übertrugen den
Generalräten das Recht, über eine Reihe von Gegenständen endgültig zu beschliessen, ohne dass sie
wie früher der nachträglichen Genehmigung der Regierung bedurften. Nur bei Verletzung eines
Gesetzes und Überschreitung der Kompetenz ist: diese zur Annullierung eines Beschlusses berechtigt.
Für die Gemeinderäte war die Erweiterung ihrer Kompetenzen weniger bedeutend. Zwar sollten
die Beschlüsse des Gemeinderates grundsätzlich endgültig sein, für den Fall aber, dass der Maire
selbst einem Beschlusse nicht zustimmt, unterliegt die Gültigkeit des Beschlusses der Genehmigung
des Präfekten, was die Selbstverwaltung der Gemeinde ziemlich illusorisch machte, da der Maire seit
dem Jahre 1852 wieder von der Regierung, wenn auch nurdurch den Präfekten, ernannt wurde, dem
die Auswahl völlig freistand, so dass er also auch ausserhalb des Gemeinderates einen Kandidaten
auswählen konnte. Damit war die öffentliche Kritik nicht zur Ruhe gekommen. Bereits vor dem
Erlass dieser beiden Gesetze war das berühmte Programm von Nancy erschienen, in dem eine
Reihe bedeutender Politiker eine grundlegende Reform der Lokalverwaltung verlangten; eine der
wichtigsten Reformpunkte war die Änderung der Gemeindeverfassung, die beidem Radikalismus
der staatlichen Verwaltung ein blosses Scheindasein führte. Solchen Reformbestrebungen, denen
bald noch andere nachfolgten, wie der Kongress von Lyon zeigte, konnte sich auch die Re-
gierung nicht entziehen. Im Februar 1870 wurde eine Kommission von Männern eingesetzt, die
Handbuch der Politik. II. Auflage. Band I. 13