Franz W. Jerusalem, Zentralisation und Dezentralisation der Verwaltung. 197
Die Gründe für diese an sich auffallende Erscheinung muss man in der dem französischen
Volkscharakter mangelnden Fähigkeit zur Demokratisierung der Verwaltung suchen, deren Gründe
wiederum darin beruhen, dass die politischen Verhältnisse der letzten Jahrhunderte die po-
litische Erziehung der Generationen unmöglich machte, so dass die etwa vorhandenen Anlagen zur
Selbstverwaltung (dieser Begriff im weitesten Sinne genommen) verkümmern mussten und fehlende
gar nicht zur Entstehung gelangen konnten. Die obige Darstellung der Verfassungsgeschichte
Frankreichs zeigt, wie das absolute Königtum bestrebt war, systematisch alle Faktoren, die als
aktive politische Gewalten in Betracht kamen, zu beseitigen. So musste es, als die Revolution
von 1789 ausbrach, an jeder Fähigkeit des Volkes zur Selbstverwaltung fehlen, es verstand, nachdem
es die Freiheit gewonnen hatte, keinen Gebrauch von ihr zu machen; die starke Hand Napoleons
musste es wieder zu dem System des Ancien Regime zurückführen. Es ist gewiss charakteristisch,
dass bei den häufigen Verfassungsumwälzungen des 19. Jahrhunderts, bei denen immer wieder
andere Parteischattierungen ans Ruder kamen, niemals der ernsthafte Versuch zu einer durch-
greifenden Reorganisation der Verwaltung im Sinne einer Dezentralisation der Verwaltung gemacht
worden ist, obwohl eigentlich die Dezentralisation stets eines der wichtigsten Bestandteile aller
Regierungsprogramme war. Und es ist noch kennzeichnender, dass Männer, die als Privatleute bei
der Ausarbeitung von Programmen und Vorschlägen im Sinne einer radikalen Umwälzung der Ver-
waltungsorganisation durch Dezentralisation der Verwaltung als führende Köpfe beteiligt waren,
es nicht wagten, wenn sie Minister geworden waren, die Verantwortung für die Durchführung solcher
Vorschläge zu übernehmen.
Umgekehrt bietet England das Beispiel einer einseitig ausgebildeten demokratischen Ver-
anlagung eines Volkes, das zwar auf der einen Seite in seinen herrschenden Schichten über eine
grosse politische Erziehung verfügt, das aber auf der anderen Seite gewisse Einseitigkeiten seines
Charakters, die auf diesem politischen Individualismus beruhen, nicht verleugnen kann. Die Reform-
bedürftigkeit der gesamten inneren Verwaltungsorganisation während des ganzen 19. Jahrhunderts,
insbesondere der völlige Zusammenbruch der Armenverwaltung war, wie wir sahen, die Folge einer
solchen einseitigen Dezentralisation der Verwaltung. Während es aber in Frankreich bisher nicht ge-
lungen ist, die Mängel an politischer Erziehung und Bildung, die einer gesunden und dem formalen
Charakter der Französischen Republik entsprechenden Dezentralisation der Verwaltung bisher ent-
gegenstanden, auszugleichen, hat man es in England, wie meine obigen Ausführungen dartun, ver-
standen, die Nachteile, die aus der völlig dezentralisierten Verwaltung entstanden waren, zu be-
seitigen durch eine Reform, die äusserlich durch Umständlichkeit und Kompliziertheit fremdartig
und merkwürdig anmutet, die aber eben dadurch in ingeniöser Weise die unbedingt notwendige
Zentralisation der Verwaltung in der den englischen Nationalcharakter wenigst drückenden
Form eingeführt hat. Das tiefer liegende Problem, das zwar nicht immer, aber doch häufig den
beiden Inhalten des Gegensatzes von Zentralisation und Dezentralisation zu Grunde liegt, ist also
die Anpassung des politisch einseitig oder überhaupt nicht ausgebildeten Nationalcharakters an
die aus verwaltungstechnischen oder politischen Gründen wünschenswerte und notwendige ander-
weitige Verteilung der Verwaltungsgeschäfte, sei es durch entsprechende politische Erziehung oder
jedenfalls, wie wir dies in England beobachten konnten, durch möglichste Anpassung an die
gegebenen Verhältnisse.
IV. Aus den bisherigen Ausführungen ergeben sich auch die Folgerungen für das Verhältnis
zwischen Dezentralisation der Verwaltung und der Selbstverwaltung, der der
nächste Abschnitt gewidmet ist. Selbstverwaltung als die Verwaltung der Staatsbürger im
Gegensatz zu der besonderer Staatsbehörden ist eine Form der Dezentralisation, die als solche
nur in denjenigen Staatswesen möglich ist, wo ein Gegensatz zwischen der Verwaltung staatlicher
Behörden und der der Staatsbürger denkbar ist, was lediglich bei Regierungsformen mit ab-
solutistischer Tendenz, nicht dagegen in wirklichen Demokratien, wie England, möglich ist.
Jedenfalls ist Selbstverwaltung begrifflich nicht die allein denkbare Form der Dezentralisation,
obgleich sie praktisch manchmal die einzig mögliche Form einer umfassenderen
Dezentralisation sein wird. Besonders gilt das für Frankreich, wo, wie wir sahen, die blosse
Übertragung selbständiger Verwaltungsbefugnisse an die Lokalbehörden lediglich eine
Dekonzentration, also eine lediglich formale Dezentralisation zur Folge hatte. In Preussen ist,