Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Hugo Preuss, Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland. 905 
  
Kreisvertretungen die Provinzialversammlung. Gerade die Verwandtschaft dieser Gesetzgebung 
mit den Grundgedanken der alten Reformpläne bereitete ihr bei der raschen Erstarkung der Re- 
aktion sehr schnell das gleiche Schicksal, das dieselben Kräfte der Stein-Hardenbergschen Reform 
bereitet hatten. Die Gemeinde-O. kam allenfalls im Westen und in einigen grösseren Städten des 
Ostens zur Ausführung d. h. da, wo sie an den bestehenden Einrichtungen kaum etwas verbesserte. 
Wo sie jedoch wirklich Neues schaffen sollte, auf dem flachen Land der östlichen Provinzen, ver- 
mochten die alten Mächte jeden Anfang der Ausführung zu verhindern; damit war auch die Aus- 
führung der Kreis-, Bezirks- und Provinzial-O. unmöglich gemacht. Am 24. Mai 1853 wurden alle 
diese Gesetze nebst Art. 105 der V. aufgehoben, die alten Kreis- und Provinzialstände wieder- 
hergestellt. Die unmittelbare Folge war die Ersetzung der verfassungsgemässen I. Kammer durch 
das Herrenhaus. Für die Landesteile, die vorher kommunale Verfassungen besessen hatten, lebten 
sie in ihrer alten Buntscheckigkeit wieder auf. Die Städte der östl. Provinzen (ausser Neuvor- 
pommern und Rügen, wo cs bei den einzelnen Stadtrezessen blieb), erhielten die St. O. v. 30. Mai 
1853, die sich an die aufgebobene Gemeinde-O. v. 1850 anlehnt. Ihr ähnlich ist die westfälische 
St. O. v. 19. März 1856, neben die gleichzeitig eine Landgemeinde-O. trat, die in der Hauptsache 
die früheren Einrichtungen wiederherstellte. Die rheinische Gemeinde-O. v. 1845 wurde wieder 
in Kraft gesetzt, aber nur für die Landgemeinden, während die Bestimmungen für die Städte abge- 
trennt wurden als rheinische St. O. v. 15. Mai 1856. Alle diese Gesetze gelten heute noch, nachdem 
die Novelle zur rheinischen Gemeinde-O. bei dem etwas plötzlichen Schluss der Landtags-Session 
1911 unter den Tisch geraten ist. 
Auf dem flachen Lande der östl. Provinzen aber wurden durch zwei Gesetze v. 14. April 1856 
in der Hauptsache die Rechtszustände des preussischen Landrechts, insonderheit die patrimoniale 
Polizeiobrigkeit des Gutsherrn über die Landgemeinde restauriert. 
Mit dieser Organisation, „balb noch Rohbau und halb schon Ruine“, trat Preussen an die 
Spitze des neuen Reichs. Von den 1866 annektierten Ländern behielten Hannover, Hessen und 
Nassau ihre bisherigen Gemeindegesetze, Frankfurt a. M. erhielt 1867, Schleswig-Holstein 1869 
eine neue St. O., die einige von dem älteren Typus abweichende Bestimmungen enthält, in denen 
man Konzessionen an die liberalisierende Politik sehen mochte. Nach jahrelangen Kämpfen mit 
der feudalen Opposition, namentlich des Herrenhauses, kam dann die Kreisordnung v. 13. Dez. 1872 
zustande, mit der man den Grundstein zu einer Reform der ganzen inneren Verwaltung zu legen 
glaubte. Das Prinzip dieser Reform hatten die Motive zum ersten Entwurf der Kr. O. also ver- 
kündet: „Der Entwurf soll, indem er für die Selbstverwaltung die Basis schafft, die Reform der 
inneren Verwaltung überhaupt einleiten“. Es war im Kern immer wieder der Leitgedanke des Stein- 
Hardenbergschen Planes, der mit immanenter Notwendigkeit bis zu seiner endlichen Verwirklichung 
wiederkehren muss, weil es keine andere Möglichkeit einer einheitlichen Organisation gibt. 
War der Sinn des neuen Reformversuches notwendig der gleiche wie der seiner Vorgänger, so 
stiess er gleich ihnen auf die alten Hindernisse: den Gegensatz zwischen West und Ost, der wieder 
in der „Eigenart“ der ostelbischen Landzustände wurzelte. Statt diese Hemmungen zu überwinden, 
suchte die Reform sie zu umgehen, indem die Kr. O. nicht einheitlich für den ganzen Staat, sondern 
nur für die östlichen Provinzen (ausser Posen) erlassen wurde; und indem man auch hier das heisse 
Eisen der Beziehungen zwischen Rittergut und Landgemeinde möglichst wenig berührte. Damit 
entfiel aber ein tragfähiger kommunaler Unterbau der Kreisverfassung. Von den 25000 Land- 
gemeinden der östlichen Provinzen hatten kaum 10% mehr als 500 Einwohner; daneben standen 
etwa 16 000 selbständige Rittergüter mit fast 2 Millionen Einwohnern. Die einfache Eingemeindung 
dieser ungeheuerlichen Latifundien in jene Kleingemeinden war tatsächlich undurchführbar. 
So lange solche Hypertrophie des Grossgrundbesitzes besteht, gibt es für die kommunale Or- 
genisation nur den Notbehelf, grosse Samtgemeinden zu bilden, die für die Inkommunalisierung 
des Grossgrundbesitzes genügenden Raum bieten. Das war zugleich der einzige Weg zu einer An- 
näherung der östlichen und westlichen Organisation. An diesem Kardinalpunkt schieden sich nun 
aber die Geister; was die einen erstrebten, wollten dieandern gerade verhindern. Um die Kr. O. über- 
haupt zustande zu bringen, einigte man sich schliesslich auf das Kompromiss kleinere Gemeinden 
und Gutsbezirke zu Amtebezirken zu verbinden. Die einen erwarteten davon die Entwicklung zu
	        
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