Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Hugo Preuss, Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland. 209 
  
Selbstverwaltungsorgan sei, zum andren Bruchteil etwas andres? Und kann man die besoldeten 
Berufsbeamten in den städtischen Magistraten nach dieser Formel noch irgendwo in der Selbst- 
verwaltungsorganisation unterbringen ? Hier liegt die Wurzel bloss für die theoretischen Schmerzen 
der deutschen Lehre von der Selbstverwaltung; aber auch für die praktische Unzulänglichkeit 
der preussischen Verwaltungsorganisation. 
Wie jedes andere Kriterium einer begrifflichen Unterscheidung von „staatlichen“ und 
„kommunalen‘ Funktionen, so versagt auch das der „obrigkeitlichen“ und „wirtschaftlichen“ 
Verwaltung. Als politische Gemeinwesen haben Staat wie Gemeinde sowohl obrigkeitliche wie 
wirtschaftliche Funktionen. Es gibt folglich auch keinen Gegensatz von „obrigkeitlicher“ und 
„wirtschaftlicher“ Selbstverwaltung. Wohl scheiden sich staatliche und kommunale Selbst- 
verwaltung, wie oben erörtert worden, als national und local selfgovernment. Aber eine „Dezen- 
tralisierung der Staatsverwaltung durch Selbstverwaltung‘, die von der vorigen preussischen — 
wie übrigens von jeder modernen — Verwaltungsreform als Ziel proklamiert wurde, ist nur im Sinne 
kommunaler Selbstverwaltung möglich d. h. durch Uebertragung bisher staatlicher Kompe- 
tenzen auf die kommunalen Selbstverwaltungskörper, die Gemeinden und Gemeindeverbände. 
Nur so scheiden diese Funktionen aus dem Verantwortlichkeitskreise des staatlichen Behörden- 
systems aus, weil sie aus dem Subordinationsverhältnis unter den verantwortlichen Minister aus- 
scheiden. Denn Subordination und Dezentralisation sind miteinander völlig unvereinbar; die 
Dezentralisation beginnt, wo die Subordination und mit ihr die Verantwortlichkeit eines staatlichen 
Vorgesetzten aufhört, und an ihre Stelle ein anderes Behördensystem und eine andre Verant- 
wortlichkeit tritt: im kommunalen Selbstverwaltungskörper. Die Voraussetzung ist aber eben 
der Übergang der Funktionen auf die kommunalen Gemeinwesen selbst, so dass die lokale Ver- 
waltung, statt von dem grossen Staatszentrum her, aus dem engeren Zentrum des Selbstverwal- 
tungskörpers geleitet wird. Diese ursprüngliche Reformidee gab man auf und schuf statt dessen 
Staatsbehörden, gemischt aus subordinierten Berufs- und aus Ehrenbeamten, deren Bestellung aus 
einem so vielfachen Destillationsprozess hervorgeht, dass sich jeder lebendige Zusammenhang mit 
einem Selbstverwaltungskörper und jede kommunale Verantwortlichkeit verflüchtigt. Dieser orga- 
nische Fehler zeitigte als Symptome: die Ueberfülle der Behörden, die unerträgliche Kasuistik 
ihrer Zuständigkeitsgrenzen, die Schwerfälligkeit des unter ständigen Reibungen sich hinschleppenden 
Geschäftsganges; kurz, die sofortige Reformbedürftigkeit der ganzen Verwaltungsreform. Es ist das 
eingetreten, wovor der damalige Abg. Miquel 1875 warnte: „Wenn uns diese Selbstverwaltungs- 
organisation dahin führte, dass wir schliesslich, wenn wir die Rechnung machen, sagen müssten: wir 
haben ebenso viel Geheimräte und Regierungsräte wie vorher, aber wir haben "daneben noch viele 
tausend Bürger herangezogen zu den“ Staatsangelegenheiten, so würde das allerdings ein sehr 
schlechtes Resultat sein. Wir würden dann auch uns von dem Ausgangspunkt der ganzen Reform 
entfernen. Der ganze Ausgangspunkt war der: nicht Stellung der bürgerlichen Tätigkeit neben 
ger der Staatsbesamten, sondern Ersatz des Staatsbeamten durch die freie Tätigkeit des 
ürgers“. 
Die Organisation der höheren Kommunalkörper wurde im Laufe der 80er Jahre auf die übrigen 
Provinzen mit Ausnahme von Posen ausgedehnt, indem jede von ihnen eine besondere Kr.- und 
Prov.O. erhielt, die den östlichen Mustern nachgebildet sind mit etlichen Modifikationen, die sich 
hauptsächlich aus dem Fehlen des selbständigen Gutsbezirks im Westen ergaben. Hier tritt zum 
Teil die Grossindustrie an die Stelle des ostelbischen Grossgrundbesitzes. Den Schluss dieser 
Gesetzesreihe macht die Hohenzollernsche Landes-O. v. 1900 für den Regierungsbezirk Sigmaringen, 
der, wie die beiden Regierungsbezirke von Hessen-Nassau, ausnahmsweise einen Kommunalverband 
bildet. Auch darin hat Hohenzollern eine Sonderstellung, dass seine Gemeinde-O. v. 1900 als einzige 
in Preussen für Stadt- und Landgemeinden zugleich gilt; es gibt dort nämlich nur wenige und un- 
bedeutende Städte. Hessen-Nassau erhielt dagegen noch 1897 eine Städte- und eine Landgemeinde- 
O. Die Miquelsche Steuerreform der 90er Jahre hatte eine Verschärfung des , ‚plutokratischen 
Charakters‘ der Dreiklassenwahl zur Folge, als deren Gegengewicht nach manchen Experimenten 
den Gemeinde-Wahlgesetz v. 30. Juni 1900 erlassen wurde. Es gilt für die Städte von mehr als 
000 E., in denen das Dreiklassenwahlsystem besteht; und es kann füglich als Musterbeispiel 
Handbuch der Politik. 1I. Auflage. Band I. 14
	        
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