310 Hugo Preuss, Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland.
des Flickwerks gelten, das die Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte auf diesem Gebiete nur noch
zu leisten vermochte.
Die Lücke, die bei der Entlassung Steins i. J. 1808 in der Kommunalorganisation des öst-
lichen Landes offen gelassen war, wurde endlich durch die östl. Landgemeinde-O. v. 3. Juli 1891
ausgefüllt. Den zwingenden Anlass gab auch hierzu jene Steuerreform, da die Neuordnung der
Kommunalabgaben unter Überweisung der bisher staatlichen Realsteuern ohne eine Neuordnung
der ländlichen Kommunalverfassung undurchführbar gewesen wäre. Das alte Prinzip einer blossen
Realgemeinde der „angesessenen Wirte‘‘ konnte nicht mehr in voller Ausschliesslichkeit aufrecht
gehalten werden. Aber in dem für die ganze Organisation der ländlichen Selbstverwaltung und
damit auch der höheren Kommunalkörper entscheidendsten Punkte, dem Verhältnis von Klein-
gemeinde und selbständigem Gutsbezirk, vermochte auch jetzt noch der preussische Gesetzgeber
nichts zu bessern. Wohl hatte der Entwurf des Ministers Herrfurth eine Zusammenlegung von
Landgemeinden und Gutsbezirken durch Verordnung zulassen wollen und sogar eine allgemeine
Revision dieser Verhältnisse in Aussicht genommen. Aber diese Absicht einer gründlichen Reform
scheiterte auch diesmal wieder an der alten Gegmerschaft. Das schliessliche Kompromiss behält
zwar formell die Möglichkeit einer Eingemeindung durch Verordnung bei; knüpft sie jedoch an
so komplizierte Bedingungen und Instanzen für jeden Einzelfall, dass tatsächlich eine planmässige,
organisatorische Neuordnung der kommunalen Einteilung unmöglich gemacht ist. Auch die als
Surrogatleistungsfähiger Landgemeinden vorgesehenen Zweckverbände sind darauf angelegt, die Ent-
wicklung von ländlichen Samtgemeinden unter Einbeziehung des Grossgrundbesitzes zu verhindern.
Die Entscheidung steht beim Kreisausschuss, dessen Zusammensetzung wie die des Kreistages
ja gerade auf dem Mangel solcher Samtgemeinden beruht. Zu Gunsten dieser Behörde ist auch das
Selbstbestimmungsrecht der Landgemeinde gelähmt, da der Gemeindevorsteher ihre Entscheidung
einzuholen hat bei jedem Gemeindebeschluss, der nach seiner — oder des Landrats — Ansicht das
Gemeindeinteresse verletzt. So ist auch an dieser fundamentalen Stelle der Kardinalfehler der
ganzen Organisation unverändert geblieben. Eine der östlichen ähnliche L.G.O. erhielt Schleswig-
Holstein 1892.
Der Gedanke der Zweckverbände, der in der L.G.O. ein Notbehelf für die Zwergremeinden
sein sollte, hat neuestens durch die beiden Gesetze vom Juli 1911 Anwendung auf die Städte und
im besonderen auf die grösste Gemeinde des Reichs gefunden. Während die deutsche Entwicklung
des letzten Menschenalters vornehmlich durch das gewaltige Anwachsen der Städte, insonderheit
der Grossstädte und ihrer Umgebung, der grossstädtischen Agglomerationen charakterisiert wird,
hat die Verwaltungsorganisation von Anbeginn einen ausgesprochen antiurbanen Zug gezeigt;
und seit 1876 hat die Gesetzgebung nicht einmal mehr den Versuch gemacht, der gewaltigen tat-
sächlichen Entwicklung dieser ältesten und grössten Selbstverwaltungskörper organisatorisch auch
nur nachzuhinken. Alle, vor 35 Jahren von der Regierung selbst als unhaltbar bezeichneten
Mängel bestehen noch heute. Mit der gesetzlichen Möglichkeit einer eventuell zwangsweisen Bildung
städtischer Zweckverbände ist demgegenüber wenig getan. Allerdings ist bei vielen Städten den
dringendsten Mi-sständen durch Eingemeindungen wenigstens äusserlich abgeholfen worden. Nicht
so bei Berlin. Seine Einfügung in den Aufbau der Verwaltungsorganisation war von vornherein
für die Entfaltung kommunaler Selbstverwaltung höchst ungünstig. Sein schnelles und gewaltiges
Wachstum musste sich bei der unverhältnismässigen Enge seines Gebiets — es ist weitaus die
kleinste Millionenstadt der Erde! — mehr als irgendwo sonst ausserhalb des Weichbildes. in der
suburbanen Agglomeration vollziehen. Nach der kurzen Episode unter dem Minister Herrfurth
setzte die Regierung jeder Eingemeindungspolitik hartnäckigsten Widerspruch entgegen und
förderte das Emporwuchern eines kommunalen Chaos ohne gleichen. Und doch wäre hier die Ge-
setzgebung zur Lösung einer Aufgabe berufen gewesen, die in der bisberigen Entwicklung der
modernen Stadtverfassungen fast völlig vernachlässigt ist: der Dezentralisierung kommunaler
Organisation. Sie ist ein unabweisliches Bedürfnis für eine gedeihliche Selbstverwaltung der Gross-
städte. Der unerträglich gewordenen kommunalen Zersplitterung Gross-Berlins soll nunmehr der
neue „Verband“ abhelfen. An sich ein höchst unzulängliches Mittel für solchen Zweck, und nicht
ohne ernste Gefahr für das Lebensprinzip kommunaler Selbstverwaltung, weil dadurch die organisch