Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

214 Hugo Preuss, Die kommunale Selbstverwaltung in Dentschland. 
  
Dem Prinzip moderner Staatsgliederung entspricht der Satz, dass jeder Teil des Staatsge- 
bietes einer Ortsgemeinde angehören muss. Dieser Satz wird in den östlichen Provinzen Preussens 
und einigen norddeutschen Kleinstaaten durchbrochen von dem Rudiment der alten patrimonialen 
Gliederung des flachen Landes, dem selbständigen Gutsbezirk. Hier steht noch die 
feudal-patrimoniale Gestalt der Selbstverwaltung an "Stelle der korporativen; die kommunalen 
Pflichten und Rechte sind solche des Gutsherrn, der sie persönlich oder durch einen Vertreter 
als Gutsvorsteher ausübt. Die Einwohner des Gutsbezirkes sind kommunalpolitisch noch Hinter- 
sassen; und zwar sind sie nach der oben dargestellten preussischen Organisation, die auf der Kreis- 
verfassung mit ihrem Dreiständesystem beruht, auch von jeder Vertretung in den höheren Kommu- 
nalkörpern ausgeschlossen. 
Die Verfassung der Ortsgemeinden ist im Süden und Westen Deutschlands eine überwiegend 
einheitliche für Stadt und Land; im Norden und Osten eine verschiedene für Land- und Stadtge- 
meinden. Das erste System herrscht tatsächlich auch da, wo zwar formell verschiedene Ord- 
nungen bestehen, ihr Inhalt aber in der Hauptsache übereinstimmt, wie in der Rheinprovinz, Hessen 
und Baden. Württemberg differenziert innerhalb seiner einheitlichen Gemeinde-Verfassung lediglich 
nach der Einwohnerzahl. Dagegen ist nach dem preussischen System, das die meisten norddeutschen 
Staaten und das rechtsrheinische Bayern angenommen haben, der Unterschied zwischen Stadt- 
und Landgemeinden ein „historischer“, d. h. Städte sind nur die Ortsgemeinden, in denen die St.O. 
eingeführt wurde, die also entweder von altersher Stadtrecht besassen oder denen es ausdrücklich 
verliehen ist. 
Man sieht in der starken Differenzierung städtischer und ländlicher Gemeindeverfassung 
gern einen urwüchsigen Zug deutscher Eigenart im Gegensatz zur romanischen Neigung der Schab- 
lonisierung und Nivellierung. Danach hätte sich die deutsche ‚Eigenart auf ostelbisch-slavischem 
Kolonialboden urwüchsig reiner erhalten als in den alten Landend Ker ‚der Franken 
und Schwaben, die sich verwelschen liessen! Doch sieht man von diesem völkerpsychologischen 
Problem ab, so erscheint die Forderung wohl berechtigt, dass sich die Organisationsformen des 
kommunalen Gemeinlebens möglichst der Verschiedenartigkeit der konkreten Gemeinden anpassen, 
nicht aber in eine abstrakte Schablone gepresst werden. Jedoch wird gerade dieser Forderung 
das „historische“ System keineswegs gerecht, indem es einerseits überwiegend agrarische Flecken 
als „Städte“, andrerseits grosse Industrieorte oder Pertinenzen grösster Städte als „Dörfer“ 
behandelt. Die Abgrenzung nach der Einwohnerzahl mag den praktischen Bedürfnissen eher ent- 
sprechen, doch nicht immer; auch haftet ihr eine mechanische Starrheit an, die in den Grenzfällen 
und bei besondern örtlichen Verhältnissen zu recht unbefriedigenden Resultaten führen kann. 
Sowohl den praktischen Bedürfnissen wie dem Selbstverwaltungsprinzip passt sich am besten eine 
Ordnung an, die innerhalb gesetzlicher Normativbestimmungen der kommunalen Autonomie einen 
freieren Spielraum bei der Auswahl ihrer Organisationsformen lässt. Die Hauptsache bleibt aber, 
dass in jeder Form die Gemeinde als wahrer Selbstverwaltungskörper organisiert sei; und gerade 
dies ist nach dem preussischen System bei der Landgemeinde noch weit weniger der Fall als bei der 
Stadt. Allerdings fehlt es hier im Osten allzu oft an der Voraussetzung wirklicher kommunaler 
Selbstverwaltung, der entsprechenden materiellen und intellektuellen Leistungsfähigkeit der Ge- 
meinde, was wiederum mit der radix malorum zusammenhängt, dem Zwerggemeindetum inmitten 
der kommunalen Immunitäten des Grossgrundbesitzes. 
Ale Repräsentativorgan erscheint in den kleinsten Landgemeinden noch unmittelbar die 
Gemeinde-Verssmmlung aller Gemeinde-Mitglieder, eventuell mit einem Pluralstimmrecht der 
Grundbesitzer; in den grösseren Landgemeinden wird von diesen Stimmberechtigten die Gemeinde- 
Vertretung gewählt; in den meisten preussischen Provinzen, in vielen norddeutschen Staaten und 
in Baden nach dem Dreiklassensystem. Gemeinde-Versammlung oder Vertretung wählt den Ge- 
meinde-Vorsteher und die Schöffen, die in der Regel kein Kollegium bilden. 
Die Stadtverfassung weist zwei Haupttypen auf: die dualistische Ratsverfassung, die sich 
schon in der mittelalterlichen Organisation der Städte entwickelt hatte, und die Bürgermeisterei- 
verfassung, die sich an das französische Mairiesystem anlehnt. Die erstere charakterisiert sich 
nicht bloss durch die kollegiale Organisation des Stadtvorstandes (Magistrat, Stadtrat), sondern auch
	        
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