Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

918 Hugo Preuss, Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland. 
  
er gesetzlich bestimmte Aufsichtsbefugnisse über sie; aber weil die kommunale Selbstverwaltung 
von dem Zentrum eines andern Gemeinwillens geleitet wird als die Staatsverwaltung, sind ihre 
Organe den staatlichen Verwaltungsbehörden nich t subordiniert. 
Das in der Tradition wurzelnde Übel wird erhalten und verstärkt durch den völligen Mangel 
an klarer Folgerichtigkeit bei der Auseinandersetzung zwischen staatlicher und kommunaler Zu- 
ständigkeit. Sobald man die Unhaltbarkeit des Dogmas vom Staate als dem „obrigkeitlichen“ 
und der Gemeinde als dem ‚wirtschaftlichen‘ Verbande erfasst hat, kann man aus dem Wesen 
beider für ihre Zuständigkeit nur folgern, dass die Gemeinde der politische Verband zur genossen- 
schaftlichen Ordnung der lokalen Angelegenheiten, der Staat der politische Verband zur genossen- 
schaftlichen Ordnung der nationalen Angelegenheiten sei. Wobei dann freilich der deutsche Terri- 
torialstaat in eine recht prekäre Lage kommt, weil er ein lokales Gemeinwesen nicht sein will, weil 
er aber ein nationales Gemeinwesen nicht ist. Daher jene unlösbaren Schwierigkeiten der deut- 
schen staatsrechtlichen Begriffskonstruktion, von denen oben im 1. Abschnitt die Rede war. Und 
diese Schwierigkeiten projizieren sich auf die Praxis, weil gerade der Einzelstaat, in dem die Tra- 
dition der bureaukratischen Obrigkeit ihren Stammsitz hat, sich mediatisierend zwischen Reich 
und Gemeinde stellt. Jedenfalls aber lassen sich „lokale Agenden“, die notwendig dem „Staate“ 
vorbehalten bleiben müssten, aus dem Wesen der Gemeinde im Gegensatz zum „Staate“ un- 
möglich ableiten. Wenn daher manche positive Gesetzgebung zwischen einem „eignen“ und einem 
„übertragenen“ Wirkungskreise der Gemeinden unterscheidet, so kann dies nur bedeuten, dass 
diese Gesetzgebung die zur ersten Kategorie gehörigen Angelegenheiten für solche hält, die nur 
der Gemeinde zustehen können, die andern dagegen für solche, die entweder dem Staate oder 
der Gemeinde zustehen können, die sie aber der letzteren zuschreibt. Das ist theoretisch sehr 
anfechtbar, praktisch aber wenig erheblich, da auch diese „übertragenen‘‘ Angelegenheiten der 
Gemeinde als Selbstverwaltungskörper zustehen und gleich den „eignen“ im Rahmen der Selbst- 
verwaltung wahrgenommen werden. Denn nicht die Überordnung der Gesetzgebung über die 
Selbstverwaltung steht in Frage, sondern die Unterordnung der kommunalen unter die staatlichen 
Verwaltungsbehörden. Gerade dies ist aber die Wirkung des in vielen deutschen Staaten, nament- 
lich in Preussen herrschenden Systems. 
Den typischen Fall bildet die Ortspolizei. Wie Verwaltung und Polizei überhaupt, 
so sind Ortsverwaltung und Ortspolizei weder begrifflich noch praktisch von einander zu lösen; 
vollends nicht die (der sogenannten Sicherheitspolizei gegenübergestellte) Wohlfahrts- oder besser 
Verwaltungspolizei. Denn sie ist ja gar nichts andres als die Zwangsseite jedes Verwaltungszweiges; 
die Schulpolizei von der Schulverwaltung, die Baupolizei von der Bauverwaltung, die Verkehrs- 
polizei von der Verkehrsverwaltung etc. organisatorisch trennen zu wollen, das ist der Gipfel des 
theoretischen wie des praktischen Widersinns. Aber freilich ist es für den Geist des obrigkeitlichen 
Polizeistaates auch der Gipfel der Selbstentäusserung, den Donnerkeil obrigkeitlicher Zwangsgewalt 
an „Untertanen“-Verbände auszuliefern. Österreich, Württemberg, Baden u. a. haben diesen 
Schritt getan, indem sie die Ortspolizei als Angelegenheit kommunaler Selbstverwaltung anerkennen. 
Nicht so Preussen. Nach dem preussischen Grunddogma ist jede Polizeifunktion unveräusserlich 
und unverjährbar „staatlich“. Da aber der „Staat“ doch nicht an jedem Orte die Ortspolizei 
durch eigne Beamte verwalten kann, so expropriiert er die Gemeinden, indem er deren Organe, 
insonderheit Ortsvorsteher und Bürgermeister, zu „staatlichen“ Polizeiverwaltern macht. Poli- 
zeiliche Funktionen werden bier also prinzipiell niemals dem Selbstverwaltungskörper zugestanden; 
vielmehr wird das kommunale Organ auf diesem Gebiet zum subordinierten Staatsbeamten herab- 
gedrückt. Das wirkt jedoch weit über dieses eine Gebiet hinaus. In die ganze Stellung der obersten 
Kommunalbeamten wird dadurch jene Zwieschlechtigkeit hineingetragen, die der geflissentlichen 
Vermengung von Aufsicht und Subordination Vorschub leistet. Dass die Ortspolizei doch in Wahr- 
heit Gemeindesache ist, erkennt sogar der preussische Staat wenigstens dadurch an, dass er ihr die 
Kosten dafür auferlegt. Damit entsteht das Prototyp für jene spezifisch preussische Abart der 
Selbstverwaltung, die darin besteht, dass der „Staat“ d. h. die bureaukratische Obrigkeit die Ange- 
legenheit — selbst verwaltet, während der Selbstverwaltungskörper die Kosten aufzubringen hat. 
Da auch das preussische System nicht das Unmögliche möglich machen und wirklich in jedem Ver-
	        
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