Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

2924 Wilhelm von Blume, Autonome Körperschaften. 
  
fügung kleiner Verbände zu grösseren, der stufenweise Aufbau von Selbstverwaltungskörpern. Nur 
muss als letzter allumfassender Verband in dieser Folge der Staat stehen; die ehedem in der 
liberalen Doktrin vertretene Meinung, dass kommunale Hoheit ausserhalb der Staatshoheit 
stände, ist nach dem eben Gesagten für den Staat der Gegenwart zu verwerfen. 
Schwächer als bei den Gemeinden ist das Eigenleben bei den zahlreichen gebietlosen 
Körperschaften, die das öffentliche Recht kennt. Zwar sind auch sie zum Teil von 
ehrwürdisem Alter. Aber soweit sie sich aus den Zeiten, wo Privatrecht und öffentliches Recht 
im Gemenge lagen, hinüber gerettet haben in den absoluten und von diesem in den konstitu- 
tionellen Staat, ist doch die alte Kraft zumeist nicht mehr in ihnen. Dies gilt auch für solche Ver- 
bände, die einen gewissen örtlichen Zusammenhang haben. Die Innungen von heute sind etwas 
anderes als die Zünfte des Mittelalters und auch die älteren ländlichen Genossenschaften: die 
Waldgenossenschaften, die Deichverbände haben doch wohl an Lebenskraft eingebüsst. 
Immerhin gibt eins ihnen auch heute noch neues wirksames Leben: die Gemeinschaft der 
wirtschaftlichen Interessen, das Bewusstsein, dass diese Interessen nur in Gemeinschaft befriedigt 
werden können. Pri htlicheG l allerArt zeugen von dertreibenden Kraft diesesGe- 
dankens. Und eben diese Erkenntnis macht sich der Staat zu Nutze; erstellt alten Verbänden neue 
wirtschaftliche Aufgaben und schafft neue Verbände für neu entstehende Aufgaben. Er stellt sie 
dahin, wo das Wohl der Mitglieder des Verbandes mit dem Staatswohl sich deckt. Und so ist 
denn das heutige öffentliche Leben erfüllt von solchen Verbänden: von Berufs-Organisationen der 
Anwälte, der Ärzte, der Kaufleute, der Handwerker, der Landwirte, den sog. „Kammern“; 
Genossenschaften, Kassen, Sozietäten — Körperschaften aller Arten reihen sich an. 
Öffentlich sind sie, sofern sie im Dienste des Staates eine Hoheit über ihre Mitglieder aus- 
üben, die vielfach schon darin zum Ausdruck kommt, dass die Nitglieder ihnen zwangsweise an- 
gehören. Verliehen ist ihnen Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung, weil der Staat ihre 
Sonder-Interessen dadurch dienstbar machen will für die Staats-Interessen. Die Aufsicht muss ihnen 
gegenüber notwendig schärfer sein als gegenüber den Gebiets-Körperschaften. Denn, da sie 
Interessen-Verbände sind, so ist ihr Eigenleben stets in Gefahr, im Interessen-Widerstreit zu 
Grunde zu gehen oder aber in Widerspruch zum Staats-Interesse zu treten. Und schärfer noch als 
gegenüber den Gebiets-Körperschaften muss diesen Verbänden gegenüber betont werden, dass „‚salus 
publica suprema lex‘ bleiben müsse. 
Das Leben aller öffentlichen Körperschaften, vom Staate bis zu den kleinsten Verbänden, 
leidet notwendig darunter, dass die Tätigkeit der Organe gebunden ist durch die Verfassung und die 
auf ihr fussende Gesetzgebung. Zwar kann innerhalb der Körperschaft wiederum eine Dezeutrali- 
sation stattfinden wie sie dem Staat durch die Übertragung von Aufgaben an die Gemeinden, den 
Gemeinden durch die Bestellung von Verwaltungsdeputationen ermöglicht wird — trotz dieser und 
ähnlicher Massregeln hat die dem neuzeitlichen öffentlichen Recht eigene Organisation der Be- 
aufsichtigung nur zu leicht eine Lähmung der Unternehmungslust und Tatkraft im Gefolge. Der 
Ruf nach „kaufmännischen“ Verwaltung bedeutet im Grunde nichts anderes als das Verlangen 
nach privatrechtlicher Ungebundenheit an Stelle öffentlichrechtlicher Gebundenheit des Handelns. 
Aber vor Übertreibungen muss gewarnt werden. Dass die kritiklose Durchführung dieses Ge- 
dankens eine Rückkehr zu überwundenen Zuständen unseres öffentlichen Lebens bedeuten würde, 
sollte einleuchten. 
Die Erkenntnis, dass in der Organisation eine Schwäche aller Körperschaften öffentlichen 
Rechts begründet sei, hat n neuerer Zeit dahin geführt, den Privat-Vereinenmitge- 
meinnützigenZwecken eine erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden, in ihnen die Pioniere 
der öffentlichen Körperschaften zu erkennen und zu unterstützen. Mag es sich um Säuglingsfür- 
sorge oder Heimatpflege, um Jugenderziehung oder Volksgesundheitspflege, um Förderung der 
Kunst oder um Fürsorge für entlassene Strafgefangene handeln — überall arbeiten dem Staate 
und den anderen öffentlichen Körperschaften Privatvereine vor. 
In der Freiwilligkeit der Bildung und der Freiwilligkeit der übernommenen Aufgaben liegt ihr 
Vorzug und liegt ihre Schwäche. Der Vorzug, sofern die Unternehmungslust, di: Bereitwilligkeit, 
die Schnelligkeit des Handelns durch die Fessellosigkeit gefördert wird. Die Schwäche, sofern eben
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.