246 Ferdinand Tönnies, Bürgerliche und politische Freiheit.
hat. Wenn aber die Koalitionsfreiheit der Arbeiter und Arbeitgeber dem Gewerberecht an-
gehört, so kann dieses auch nicht umhin, die besonderen wirtschaftlichen Gefahren ins Auge
zu fassen, die dem Zusammenschluss von Betrieben zu Kartellen und vollends zu monopo-
listischen Trusts anhaften mögen. — Die Vorstellungen von den Gefahren politischer Vereine
und Versammlungen knüpften sich ehemals hauptsächlich an die Tätigkeit der Klubs in der
französischen Revolution. In der Restaurationszeit nach 1815, wie in derjenigen nach 1848,
wurden die Prinzipien des Polizeistaats gerade in dieser Sphäre wieder mächtig. Mit
dem Erstarken der politischen Freiheit, insbesondere durch Verallgemeinerung des parla-
mentarischen Wahlrechts, haben aber jene Prinzipien wiederum nachgeben müssen.
Vgl. in diesem Abschnitt „Vereins- und Versammlungsrecht“,
B. Politische Freiheit bedeutet:
1. In bezug auf die gesetzgebende Gewalt des Staates entweder unmittelbare
Mitentscheidung über die Rechtskraft von Gesetzen — wie im Referendum — oder das
Recht, einen Volksvertreter als Mitgesetzgeber zu wählen. Vgl. hierüber sechstes Hauptstück.
2. In bezug auf die richterliche Tätigkeit das Recht: 1. in der Strafgerichtsbar-
keit als Geschworener oder als Schöffe zu fungieren; 2. in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten
an der ordentlichen Gerichtsbarkeit mitzuwirken oder zu einer ausserordentlichen richter-
lichen Tätigkeit — z. B. zu Gewerbe- oder Kaufmannsgerichten — berufen zu werden. —
Vgl. Abschnitt 23, 24.9)
3. In bezug auf die Exekutive oder die administrative Gewalt 1. das Recht,
die Beamten, denen diese anvertraut wird, zu wählen; 2. die Selbstverwaltung,
als solche eine Freiheit der Gemeinden, kommunaler Verbände und Korporationen, woran
aber der Staatsbürger unmittelbar oder durch Wahlrechte teilnimmt. — Vgl. Abschnitt 15.
Exkurs.
Der Liberalismus, als politische Willens und Gedankenrichtung, hat sich immer viel
stärker für bürgerliche als für politische Freiheit interessiert; ja er hat seine Postulate lange
auf jene allein bezogen. Gerade den unumschränkten und aufgeklärten Fürsten hielt er für
berufen, Duldung zu üben und die Bekenntnisfreiheit, Gedankenfreiheit zu schützen; auch
das durch und durch liberale volkswirtschaftliche System der Physiokraten wollte (nach
Rodbertus’ Ausdruck) den „Freihandel im Absolutismus®. Die Bewegung, die zum konsti-
tutionellen Staate hinstrebte, ging unabhängig von diesen Ideen ihren Weg. Sie hatte zwar
eine gemeinsame Basis in der naturrechtlichen Lehre von der Volkssouveränität und von
der Begründung des Staates durch Verträge; aber praktisch stärker war im 18. Jahrhundert
ihre Verbindung mit den nur durch Usurpation der Monarchen verdeckten ständischen Ver-
fassungen, daher die Beziehung aufdas englischeMuster, worineinesolche Verfassungsich erhalten
und bedeutend entwickelt hatte. An diesem Enthusiasmus für politische Freiheit nahmen
daher auch die alten herrschenden Stände, Klerus und Adel, soweit sie nicht durch die Höfe
zermürbt waren, lebhaften Anteil. Und der bürgerliche Liberalismus verlangte zunächst
nichts, als Gleichstellung des Bauern- und Bürgerstandes, der in der geldbesitzenden Schicht
seine natürlichen Führer anerkannte, mit den alten Ständen, wenn auch von da ein kurzer
?) Bemerkenswert ist, dass Tooqueville, der ein scharfes Auge für die Zusammenhänge von
bürgerlicher und politisoher Freiheit hatte, die Ansioht ausgesprochen hat, die auf Kriminalfälle eingeschränkte
Jury sei in beständiger Gefahr; das Volk sehe sie nur aus der Ferne in einzelnen Fällen wirkön, es betrachte
sie wohl als ein Mittel guter Rechtspflege, aber nicht ale das einzige. Sei sie aber einmal auch in die Zivil
Prozesse eingeführt worden, so trotze sie den Zeiten und allen menschlichen Anstrengungen „Hätte man
den Sitlen der Engländer die Jury eben:o leioht wie ihren Gesetzen rauben können, so wäre sie unter den
Tudors gänzlich unterlegen. Es ist also die Zivil-Jury, die ia Wirkliohkeit die Freiheiten Englands gerettet
hat.“ De la dömocratie II, 8, p. 212,