Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Ferdinand Tönnies, Bürgerliche und politische Freiheit. 247 
  
Schritt zu der Forderung ging, dass sie in ilım, als dem allgemeinen nationalen S:taatsbürger- 
tum, auf- und untergehen sollten. Der dritte Stand wollte dann „alles“ sein und erklärte seine 
Versammlung als Nationalversammlung. — Gleichwohl haben in den meisten Verfassungen, 
die im 19. Jahrhundert gebildet wurden, die alten Herrenstände durch das Zwei-Kammern- 
System ihren Einfluss zu erhalten gewusst; mit den Oberhäusern dieser Art konkurrieren nur 
die ersten Kammern, die in den Bundesstaaten das föderative Prinzip darstellen, und eine 
freie Nachbildung in Gestalt des französischen „Senats“. — Das 19. Jahrhundert ist 
aber, ausser durch die Restauration und ihre Kompromisse mit der Revolution, durch das 
Emporsteigen des Proletariats auch politisch charakterisiert, das die liberalen Prinzipien 
im Sinne der Volkssouveränität aufnimmt, sie also in radikaler und demokratischer Richtung 
erweitert. Ihm steht die politische Freiheit, d. h. ihre Verallgemeinerung, im Vorder- 
grunde seines Strebens; mit der bürgerlichen Freiheit ist es nicht zufrieden und sieht ins- 
besondere in der wirtschaftlichen vorzugsweise die Macht der Starken über die Schwachen, 
die Freiheit der Ausbeutung. Er fordert und erlangt vom Staate Schutz dagegen, und er- 
strebt ihre Vernichtung durch Uebergang des Bodens und des Kapitals auf die Gesamtheit; 
der wirtschaftlichen Freiheit setzt sich die Idee der wirtschaftlichen Gleichheit entgegen. Der 
politischen Kräfte, die in den Massen gären, bemächtigt sich zeitweilig die Monarchie und 
mit ihr die alten Herrenstände, indem der Cacsarismus auf Grund des „Suffrage universel“ 
sich etabliert, um die Bourgeoisie zu drücken. So konnte die Ausdehnung der politischen 
Freiheit als „französische“ Freiheit der „englischen“ gegenübergestellt werden. Jene wurde 
und wird — wenn demokratisch gestaltet — als Absolutismus und Willkürherrschaft (‚‚Tyrannei‘) 
der jeweiligen Majorität bezeichnet. Die zentralisierte Verwaltung gilt als ihr hervorstechendes 
Merkmal, das sie mit dem fürstlichen Absolutismus gemein habe. Dagegen sagte im Sinne 
des älteren Liberalismus (und als Gedanken des Freiheren v. Vincke) Niebuhr: aus der 
Erkenntnis, dass die Freiheit ungleich mehr auf der Verwaltung als auf der Verfassung be- 
ruhe, sei die preussische Städte-Ordnung hervorgegangen. Diese Denkungsart führte in Frank- 
reich Tocqueville, in Deutschland Gneist weiter. Seitdem hat aber auch in England der 
demokratische Gedanke und der Einfluss der Massen starke Fortschritte gemacht, wenn auch 
noch nicht bis zum allgemeinen Stimmrecht: neuerdings (1911) besonders durch die Be- 
schränkung der politischen Macht des Oberhauses, wogegen diese von den heutigen englischen 
Konservativen, mit denen die Altliberalen verbunden sind, als Hort der bürgerlichen 
Freiheit behauptet wurde. Herbert Spencer verklagte die Ausdehnung der (wenn auch 
demokratischen) Staatsgewalt als „neuen Toryismus“; Sozialismus war ihm nur ein anderes 
Wort dafür. Der Fortschritt des sozialistischen Gedankens hat aber bewirkt, dass sowohl 
die Tory- als die Whig-Partei jetzt, in Spencers Sinne, das Individuum und seine bürger- 
liche Freiheit gegen den Staat, und nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen die 
Verbindungen der Individuen ausspielen, wenigstens soweit es sich um Arbeiter- Verbindungen 
handelt. Immer offenbarer konzentriert sich gerade in England die politische Entwicklung 
um den Kampf zwischen der besitzenden und der Arbeiterklasse. Andererseits begegnet 
sich dieser Liberalismus in der Verneinung des Staates und aller Zwangsgemeinwirtschaften 
mit derjenigen kommunistischen Richtung, die an die Selbsthülfe der Arbeiterklasse appelliert 
und in theoretischen Anarchismus ihren konsequentesten Ausdruck sucht. — In Nebenländern 
ist die politische Freiheit als Stimmrecht auch auf Frauen ausgedehnt worden; und diese 
Ausdehnung steht in England wahrscheinlich nahe bevor. Sie wird freilich zunächst eher 
im altliberalen und aristokratischen als im demokratischen Sinne geschehen. Aber das 
Fortschreiten der Demokratie wird sich auch hier als unaufhaltsam erweisen, zunächst als 
Kompensation, aber auch als mögliches Heilmittel gegen die von der wirtschaftlichen Ent- 
wicklung getragene Plutokratie. Die daraus entspringenden Parteikämpfe werden nur 
durch sittliche und intellektuelle Momente gemildert werden können.
	        
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