Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

278 Max Fleischmann, Die materielle Gesetzgebung. 
  
(unersetzten) Wegfalle eines Reichsgesetzes der Landesgesetzgeber für jenes Sachgebiet wieder 
freie Hand bekommt.!‘) Die Frage ist nicht einheitlich zu entscheiden. Es kommt darauf an, ob 
der Reichsgesetzgeber ein gesetzliches Vakuum schaffen wollte. Dann bindet dies den Glied- 
staat. Ist dies aber nicht anzunehmen, so liegt die Sache so, als wenn das Reich von seiner Zu- 
ständigkeit noch gar keinen Gebrauch gemacht hätte: Der Gliedstaat erhält freie Hand für seine 
Gesetzgebung. Ohne Zweifel ist dies der Fall, wenn das Reich etwa seiner Satzung von vornherein 
eine bloss vorübergehende Geltung gegeben hat. 
Wohl zu scheiden hiervon ist die weitere Frage, ob mit dem Wegfall der Reichssatzung eine 
frühere Landessatzung von selbst wieder zu Kräften komme. Das ist so wenig der Fall, wie ein älteres 
Landesgesetz dadurch, dass ein jüngeres wieder beseitigt wird, von selbst wieder auflebt. 
5. Ergänzungsbedürftige Gesetze sind solche, die inhaltlich unvollständig 
sind. Sie begegnen uns namentlich in Verfassungsgesetzen, die, unter politischer Spannung ge- 
schaffen, oft zahlreiche Einzelfragen ausdrücklich einer Gesetzgebung der Zukunft vorbehalten. 
Auch in der Folge fehlt es nicht an gesetzlichen Verheissungen zu politischer Beschwichtigung 
(vgl. unten III Ziff. 1). Doch auch andere in der Sache gelegene Verhältnisse können für solche 
Lückenhaftigkeit den Anlass geben. Hier ist es besonders eine zweckdienlich erscheinende Über- 
antwortung oder Anerkennung der Regelung gewisser Rechtsverhältnisse durch andere Organe. 
Das wäre für das Reich der Landesgesetzgeber oder auch der Kolonialgesetzgeber, oder überhaupt 
ein ganz ausserhalb der gesetzgebenden Körperschaften stehendes Organ (Delegation, Ziffer 6), 
„Rahmengesetze‘“ nennt die österreichische Rechtseprache in ansprechendem Bilde die ersten 
Gruppen.“*) Hierbei kann die in den Rahmen zufügende Norm auch ausserhalb des Rahmens 
selbständige Bedeutung haben und bewahren — interessante Beispiele: $19 Reichsbeamtengesetz, $19 
Konsulargerichtsbarkeitsgesetz — oder aber lediglich innerhalb des Rahmens Wirkung gewinnen. 
Aus dem Strafrechte gehören hierher die von Binding sogenannten „Blankettgesetze“, deren Tat- 
bestand die Definition der verbotenen Handlung nicht aus der Norm wiederholt, vielmehr die Straf- 
folge an die Übertretung eines nur generisch bezeichneten Gebots oder Verbots knüpft.) Er- 
gänzende Gesetze dieser Art sind gegenüber dem ergänzungsbedürftigen Gesetze selbständig. 
Zweierlei darf hiermit nicht vermengt werden: Gesetze, die sich selbst ein anderes Gesetz 
einverleiben. Dadurch wird dieses zum Bestandteil des ersten Gesetzes, erstarrt in seiner gegen- 
wärtigen Gestalt. Ein Beispiel bietet Art. 68 der Reichsverfassung über den Kriegszustand, der die 
Vorschriften des preussischen Gesetzes vom 4. Juni 1851 übernimmt. Das ist Flickwerk, und 
gerade dieses Beispiel zeigt das Bedenkliche !?) solcher hinzenden Gesetze; denn der gesetzliche 
Fremdxörper findet sich nicht so restlos, wie es der Gesetzgeber bei seiner Einverleibung ver- 
meint, in das Gefüge der neuen Gesetzeseinheit. — Als „Mantelgesetze‘“ bezeichnet man das 
Sondergesetz, das bei einer Gruppe von parallel laufenden Einzelgesetzen dazu bestimmt ist, die 
grundlegender, ihnen allen gemeinsamen Vorschriften zusammenzufassen (vgl. die 4 Unfall- 
versicherungsgesetze vom 30. Juni 1900 neben solchem Mantelgesetz). 
Beides hat nur gesetztechnische Bedeutunr. 
  
6. Eine Übertragung der Rechtssetzung an Stelle des Gesetzgebers auf 
ein anderes Organ ist vom konstitutionellen Standpunkte aus nur zur Ergänzung zu rechtfertigen, 
besonders, wenn es sich um Einzelheiten handelt, die in den Voraussetzungen noch nicht absehbar 
sind, wohin auch die Bestimmung des Zeitpunktes für den Beginn der Geltung eines Gesetzes zu 
rechnen ist, oder die häufigen Schwankungen unterliegen. Wo, wie im Reiche, eine allgemeine Delega- 
tion fehlt oder doch zweifelhaft ist, ruft der Mangel Einzelübertragungen in Fülle hervor. So für die 
  
14) Die Stellungnahme in all diesen Punkten wird praktisch (und wird in verschiedenem Sinne erörtert) 
für den Fall einer Aufhebung des Reichsgesetzes über die Jesuiten. 
®) Franz Weyr, Rahmengesetze, 1913; v. Herrnritt, Handbuch des österreichischen Verfassungs- 
rechts, 1909 S. 201, 202. 
15) Binding, Handbuch des Strafrechts I 179. 
) Vgl. Fleischmann, „‚Belagerungszustand‘“ (Wörterbuch des Staats- u. Verwaltungsrechts®
	        
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