Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

284 Max Fleischmann, Die materielle Gesetzgebung. 
  
allgemeinen Bildung, mit genügender Schulung zur Erkenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge 
ausgestatteten Richter. Das Gesetz steckt einen oft weiten Rahmen ab, im Strafrechte sowohl 
wie im Zivilrechte, so wenn das BGB. es abstellt auf „Treu und Glauben mit Rücksicht auf die 
Verkehrssitte‘‘ oder auf die „Billigkeit‘‘, oder wenn es die „guten Sitten‘ oder den „wichtigen 
Grund“ berücksichtigt. Erheblich freier noch will der Vorentwurf zum deutschen Strafgesetzbuche 
den Richter stellen. Nicht zu vergessen ist aber auch das Verwaltungsrecht mit seinen weiten Mög- 
lichkeiten des Ermessens; denn es ist aller Orten zu eng, bloss den Richter in Verhältnis zu dem 
Gesetze zu bringen und nicht überhaupt jedes zu einer Entscheidung berufene Amtsorgan.°*) Hierbei 
steht der Richter innerhalb des Gesetzes, wenn auch die freie Handhabung bis hart an die Korrektur 
des Gesetzes führen kann. Am freiesten wirkt die Tätigkeit, wo es gilt, Lücken der Gesetzgebung 
auszufüllen (Z. 3), was in besonderem Masse in dem noch unfertigen Rechtsbau für unsere Kolonien 
der Fall, doch bisher nur ganz vereinzelt beobachtet worden ist. Diese Fragen in den Mittelpunkt 
gerückt hat eineReihe von Schriftstellern, die man als „Freirechtler‘ f dzubezeich 
pflegt. Der Name deckt aber sehr verschiedene Stufen.”) Die b:gehrte Freiheit vom Positiven, 
woeszwängend wird, ist der Punkt, in dem sich die Verfechter dieser Richtung zusammenfinden, die 
Absage an eine sog. Konstruktionsjurisprudenz zugunsten einer „Interessenjurisprudenz.‘“ Der 
Inhalt dieser Freiheit oder richtiger der Abstrich, den der einzelne an dieser Freiheit zugunsten der 
Gebundenheit dennoch gelten lässt, sieht bei den einzelnen Vertrete:n naturgemäss verschieden aus. 
An Übertreibungen hat es nicht gefehlt, wie immer, wo neue Gedanken mit altem Besitzstande 
ringen. Unbedingt abzulehnen ist eine Aufstellung, bis zu der sich allerdings nur vereinzelt einer 
verstiegen hat: dass der Richter befugt wäre, unter Umständen auch gegen das Gesetz zu handeln, 
wo ihm das Gesetz zu unbilligem Ergebnisse zu führen scheint. Um so notwendiger ist es, nach 
dieser Richtung die deutliche Schranke zu ziehen, als der Gedanke an sich Folgen ebensogut 
in Gebieten des öffentlichen Rechtes, des Staats-, Verwaltungs- und auch des Strafrechts würde 
äussern müssen wie im Privatrecht. Hier erscheint die Korrektur des Gesetzes durch den Richter 
für die Regel nur politisch bedenklicher, deshalb aber auch augenfälliger. Ein grundsätzlicher 
Unterschied für die Anwendung ist jedoch nicht zuzugeben. In einem jeden Falle würde die Garantie- 
funktion, die in dem Gesetze liegt, verletzt; dem Richter eine Gewalt zugeteilt, die die Geschichte 
des Rechtes gegenüber einer noch unbeholfenen Gesetzgebung — in Rom, auch in England — wohl 
kennt, die aber mangels ausdrücklicher Zuteilung im Staate unserer Zeit sich an dem in schweren 
politischen Kämpfen errungenen Grundsatze stossen muss: „Die richterliche Gewalt wird durch 
unabhängige nur dem Gesetze unterworfene Gerichte ausgeübt‘ ($ 1 Gerichtsverfassungsgesetz). 
Das Gesetz steht über dem Richter oder, um mit Altmeister Unger zu reden „der Richter hat 
  
*) Vgl. Stier-Somlo, Das freio Ermessen in Rechtsprechung und Verwaltung 1908, v. Laun, das 
freie Ermessen und seine Grenzen 1910, sowie Stammler, die grundsätzlichen Aufgaben der Juristen in Recht- 
sprechung und Verwaltung (im Verwaltungsarchiv Band 15) 1907. Aber Tezner, Das d&tournement de pouvoir 
und die deutsche Rechtsbeschwerde (Jahrbuch des öffentlichen Rechts V, 1911, 93). 
®) Ansätze bei O. Bühr, Rechtsstaat 1864 $$ 2, 4, 5 (meist übersehen). Literaturangaben jetzt bei 
Heck, Problem der Rechtsgewinnung 1911. Darum hier nur ein paar Ergänzungen: Wenger, Antikes 
Richterkönigtum (Festschrift zur Jahrhundertfeier des österr. Allg. BGB.1479) 1911. Für das 18. Jahrhundert z. B. 
Aug. Leyser (vgl. Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft III1, S. 210 f., Notenband 
S. 140); dagegen Svarez: „Es ist für die bürgerliche Freiheit nichts gefährlicher als dem arbitrio iudieis unbe- 
stimmte oder zu weite Grenzen zu setzen“ (Stölzel, Karl Gottlicb Svarez, 1885 S. 184, auch 239). v. Kirch- 
manns Vortrag über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1848) hat keine Spuren eingegraben 
(vgl. die Analyse von Th. Sternberg, J. H. v. Kirchmann und seine Kritik der Rechtswissenschaft 1908 
8.13f);Reichel, inderdeutschen Richterzeitung II, 1910 Sp. 464—468; Manigk, Was ist uns Savigny? 
(Recht und Wirtschaft, 1912, 174, 199) u. österr. Zentralblatt für die jurist. Praxis 30 Heft 9; v. Peretiat- 
kowicz, Methodenstreit in der Rechtswissenschaft (Grünhuts Zeitschrift 39, 1913, S. 555 fg.); Müller- 
Eisert, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung 1914 (erschienen 1913); — Jos. Schwering, Naturrecht 
und Freirechtslehre (Festschrift der Görres-Gesellschaft für Georg v. Hertling 1913 S. 574—593), Rumpf, Der 
Strafrichter I, II, 1912, 1913; — Mendelssohn Bartholdy, Das Imperium des Richters 1908; 
Gerland, Die Einwirkung des Richters auf die Rechisentwicklung in England, 1910; — Crusen, die 
deutschen Schutzgebiete das Eldorado der Freirechtler (im ‚‚Recht“ 1911 Sp. 549-557).
	        
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