Paul Schoen, Die formellen Gesetze. 299
2. greift ein solcher Gesetzentwurf in ein in der Reichsverfassung anerkanntes Sonderrecht ein,
so ist er überdies stets abgelehnt, wenn der Staat, dessen Sonderrecht abgeändert werden soll, gegen
ihn ist (Art. 78 Abs. 2); 3. Gesetzesvorschläge über das Militärwesen, die Kriegsmarine und die im
Art. 35. bezeichneten Abgaben sind abgelehnt, wenn Preussen sich für die Aufrechthaltung der
bestehenden Einrichtungen ausspricht (Art. 5 Abs. 2); 4. bei Abstimmungen über Gesetzesvor-
schläge, die Gegenstände betreffen, hinsichtlich deren einzelne Staaten auf Grund ihrer Reservat-
rechte von der Kompetenz des Reiches eximiert sind, werden nur die Stimmen derjenigen Staaten
gezählt, für die das betreffende Gesetz zur Anwendung kommt (R.Verf. Art. 7 Abs. 4).
c) Sind die übereinstimmenden Mehrheitsbeschlüsse des Reichstages und Bundesrates in
der Reihenfolge zustande gekommen, dass der Bundesrat sich zuletzt mit dem Entwurf beschäftigt
und ihn in der vom Reichstage beschlossenen Form angenommen hat, so tritt die Sanktion
überhaupt nicht als ein besonderer Akt in Erscheinung: sie liegt in dem den Entwurf annehmenden
Beschlusse des Bundesrates. Anders, wenn die Übereinstimmung der beiden Körperschaften ab-
schliessend durch einen Beschluss des Reichstages hergestellt wird, derdie Vorlage in der vom Bundes-
rate beschlossenen Form annimmt; hier muss der Bundesrat über die Sanktıon einen besonderen
Beschluss fassen, da er sie erst aussprechen kann, nachdem zwischen ihm und dem Reichstage
die Vereinbarung stattgefunden hat. Bei dieser Beschlussfassung ist er durch seine frühere Annahme
des Entwurfes nicht gebunden; er kann ihm nach freiem Ermessen jetzt die Sanktion ebenso ver-
sagen wie erteilen. Dieses Sanktionsrecht des Bundesrates ist in der Reichsverfassung allerdings
nirgend ausdrücklich anerkannt, es folgt aber aus der allgemeinen verfassungsrechtlichen Stellung
des Bundesrates als Repräsentant des Trägers der Reichsgewalt (der verbündeten Regierungen)
und istüberdem auchstillschweigend bestätigt durch Art. 7 Abs. 1 der R.Verf., nach dem der Bundes-
rat zu beschliessen hat über alle von dem Reichstage gefassten Beschlüsse, also auch über die Ge-
setzentwürfe, die der Reichstag nach ihm angenommen hat.!!) Den einmal gefassten Sanktions-
beschluss kann der Bundesrat wieder aufheben, solange das Gesetz noch nicht an den Kaiser (vgl.
unten zu d) weitergegeben ist.
Das vom Bundesrate sanktionierte Gesetz ist gemäss Art. 17R. Verf. vom Kaiserauszu-
fertigen und zu verkündigen. Die Ausfertigung erfolgt dadurch, dass der Kaiser das in einer
Urkunde aufgenommene Gesetz unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers unterzeichnet. Er be-
urkundet damit, dass dieses das vom Bundesrate und Reichstage vereinbarte und von jenem sanktio-
nierte Gesetz ist, und der Reichskanzler ist für die Richtigkeit dieser Erklärung verantwortlich.
Ein Sanktions- oder Vetorecht ist dem Kaiser als solchem mit der Zuweisung dieser Ausfertigungs-
kompetenz nicht beigelegt.!2) Er ist verpflichtet, die vom Bundesrate sanktionierten Gesetze auszu-
1) So auch die horreohende Ansicht, vertreten bes. von Laband St.R.S. 26 ff;v.Seydel Komm.
S. 117; Zorn St.R. IS, 413; Meyer St.R. S. 681; Haenel, Studien II S.52; Ansohütz,i.d. Enzykl. S.
158. Die vereinzelt vertretene Ansicht (Naohweisungen bei Meyer a. a.0. Anm. 4), dass Reichsgesetze einfach
durch Vereinbarung zwischen Bundesrat und Reichstag zustande kommen undeiner Sanktion überhaupt nicht be-
dürfen, welohe ihren Stützpunkt besonders in Art. 5 Abs. I Satz 2 R. Verf. zu finden glaubt — ist unhaltbar.
Wenn es hier heisst: „Die Übereinstimmung der Mehrheitsbesohlüsse beider Versammlungen ist zu einem
Reichsgesetze erforderlich und ausreiohend“, so sollte damit zweifellos nicht gesagt werden, dass das
Reiobsgesetz immer schon fertig ist, wena Bundesrat und Reichstag sioh über seinen Inhalt geeinigt haben.
Dieser Auslegung steht schon Art. 7 Abs. 1 entgegen. Der Satz 2 des Art. 5 Abs. 1 hatte, wie sich aus seiner
historischen Entstehung ergibt, lediglich den Zweck, im Gegensatze zum Erfordernisse der Einstimmigkeit, welches
die deutsche Bundesakte für die Bundesversammlung anerkannt batte, das prinzipielle Genügen der Mohrheits-
beschlüsse für Bundesrat und Reichstag ausdrücklich zu konstatieren. Labanda.a. 0. S. 9; Haonel
& 8.0. 5,51. Auch aus Art. 78 Abs. 1, der für gewisse Bundesratsbesohlüsse qualifizierte Mehrheit fordert, rolgt,
dass Satz 2 des Art. 5 Abs, I nur die Absicht gehabt haben kann, das eben gedachte Prinzip aufzustellen, nicht
aber die, die Erfordernisse des Reichsgesetzes abschliessend zu bestimmen.
1) So auch die herrschende Ansicht. Dass für den Kaiser aus Art. 17 kein Veto- oder Sanktionsrecht ab-
geleitet werden kann, folgt schon aus Satz 1 des Art. 5, der in seiner strikten Fassung: „Die Reichsgesetzgebung
wird ausgeübt durch den Bundesrat und den Reichstag‘‘ den Kaiser als selbständigen Faktor der Gesetzgebung
sohlechthin aussohliesst. Eingehendere Widerlegung anderer Meinungen besonders beiLabauda. a. O. S, 26ff,
und v. Seydel Komm. S. 172,