Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Karl Lamprecht, Staatsform und Politik im Lichte der Geschichte. 19 
In den Zeiten anethischer Rechtsgestaltung ist die Politik nach aussen, 
wie nach innen brutales Machtringen der gepanzerten Faust, Kampf um die grösste Land- und 
Schatzgewinnung, moralinfreies Streben nach den besten Futterplätzen: Vae victis! Sei im Be- 
sitz und du wohnst im Recht. 
Die sittlieh-reehtliche Synthese wird gekennzeichnet durch Toleranz nach 
aussen und Freiheit nach innen. Die Sittlichkeit wirkt in der Politik die Anerkennung stets grösserer 
Massen als Menschen (Humanitätsidee), als Rechtsträger, als zu Respektierende. (Die Entartung 
dieser Idee führt zur Irrlehre der Gleichberechtigung aller.) Die Herrschaftsmacht wird gemildert 
durch die ethische Macht der Freiheitsidee.) Dem Machtstreben tritt die Freiheit entgegen: 
gestützt durch finanzielle Kraft des Bürgertums; robuste Arme — der Arbeiter, Kanonen und 
Panzerschiffe — fremder Staaten. (Wie so häufig, einen auch hier sich Idealismus und Realismus.) 
“ Die Ethik hat ihre Wirksamkeit in der inneren Politik seit dem Mittelalter in den grossen 
Emanzipationskämpfen offenbart: Seelische Befreiung der Weltlichkeit aus kirchlicher 
Umklammerung; politische Befreiung des Bürgertums vom Absolutismus der Fürsten ;29) wirt- 
schaftliche Befreiung der ausgebeuteten Arbeiterschaft aus dem Joch kapitalistischer Übermacht. 
In der äusserenPolitik wirkt die ethische Forderung die Ausbreitung des Schieds- 
gerichtsgedankens und der Friedensidee, auf der Grundlage der Gleichberech- 
tigung (des gleichen Rechts auf Existenz und Selbstbehauptung) aller Staaten. 
Die Politik wird durch das ethische Ferment geläutert:Die brutale Gewalt unter- 
stellt sich der Gerechtigkeit mit der universalen Anerkennung 
der Menschheitsidee oder(wasdasselbe bedeutet) des Freiheitsgedankens. 
5. Abschnitt. 
Staatsform und Politik im Lichte der Geschichte. 
Von 
Geh. Hofrat Dr. Karl Lamprecht, LL. D., 
o. Professor der Geschichte an der Universität Leipzig. 
Einleitung. 
Die Geschichtswissenschaft findet immer mehr den Drehpunkt ihrer Methoden in der Psy- 
chologie, Erkenntnis der seelischen Entwicklung der Menschen wird zu ihrem eigentlichen Ziele, 
und je mehr die vergleichenden Methoden auf der Basis entwicklungsgeschichtlicher Anschauungen 
vorwärtsschreiten, um so mehr wird dieses Ziel gesichtet. Gegenüber dieser Vorwärtsbewegung 
tritt die frühere historische Anschauung, welche den Staat als den Mittelpunkt alles historischen 
Interesses erachtete, immer mehr zurück. Äusserlich kann der Prozess in der Umwertung der ein- 
%) Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, $ 142: „Die Sittlichkeit ist die Idee der Frei- 
heit...“ 
%) Eingeleitet durch die wohlwollende Bevormundung im Polizeistaat. Anti-Machiavel, Kap. 1: „Es ist 
demnach die Gerechtigkeit, welohe das vornehmste Augenmerk eines Fürsten sein soll; es ist demnsch die Wohl- 
fahrt seines Volks, so er allem anderen Nutzen vorziehen muss.“ 
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