Karl Lamprecht, Staatsform und Politik im Lichte der Geschichte. Pal
Mannschaft der Sippe B in die gleiche Fehde gexenüber der Sippe A eintrat: — ein Vorgang, der
bis zur Vernichtung der beiderseitigen Geschlechter führen konnte. Es ist also zunächst das Motiv
der Selbsterhaltung, welches zur innerlichen Bindung der einzelnen Geschlechter aneinander in
dem Sianeführte, dasseine Form gefunden wurde,di n
geeignet war. Diese Form mag anfangs die der schiedsrichterlichen Vermittlung der Gesamtheit
aller Geschlechter in einem bestimmten Verbande gewesen sein. In der taciteischen Zeit ist diese
Vermittlungstätigkeit aber schon längst einem als strafrechtlich zu charakterisierenden Verfahren
gewichen, so dass sich für deutsche Verhältnisse mit voller Sicherheit behaupten lässt, dass der
eigentliche Staat aus der primitiven Geschlechterverfassung durch die Entwicklung strafrecht-
licher Formen hervorgegangen sei. Indem nun aber zunächst für diese wichtigste aller internen
Angelegenheiten, die Friedensstiftung, die damit zu dem Urzweck des Staates auf germanischem
Boden wurde, allmählich weitere Zwecke gegenseitigen Zusammenlebens traten, musste sich die
ursprüngliche Versammlung aller Geschlechter, in der über die Niederlegung der Fehde zwischen
den Geschlechtern beraten wurde, zu einer allgemeinen Staatsversammlung erweitern, dem be-
kannten Conecilium civitatis, in welchem nunmehr der neue Staat in den Personen aller ihm Ange-
hörigen direkt in sinnliche Erscheinung trat.
Wird man geneigt sein, nach diesem letzten und höchsten Moment der Entwicklung den
urzeitlichen Staat nach den hergebrachten aristotelischen Kategorien als Demokratie zu bezeichnen,
so ist doch eine zutreffende und allumfassende Charakteristik dieser Staatsbildung nur möglich,
wenn man auf den Charakter des besonderen Seelenlebens zurückgeht, in dem sich seine Angehörigen
befanden. Das Entscheidende ist hier, dass die Differenzierung der einzelnen Personen nach Willens-
tätigkeit und Eindrucksfähigkeit, nach Kenntnis und Verständnis noch so wenig vorgeschritten
war, dass sich aus der für alle einheitlichen psychologischen Gesamtlage ein Zustand ergab, in dem
es noch möglich war, die einzelnen Personen, sowohl in dem Recht des Geschlechts wie staats-
rechtlich, als fungibel zu betrachten. Dies aber ist nun, soweit man bisher zu sehen vermag, die all-
gemeine Voraussetzung aller urzeitlichen Staatsformen. Ist damit die psychologische Grundlage
einer primitiven Staatsentwicklung, in der ganz allgemein weniger von Staatskunst als von unbe-
wusstem Staatswerden die Rede sein kann, aufgedeckt, so ist über ihren Charakter noch einiges
binzuzufügen. Die nachgewiesene typische Grundlage des Seelenlebens verhindert nicht etwa, dass
sich im Bereiche der Kulturen, für die sie gilt, bestimmte Persönlichkeiten herausbilden konnten
von sehr verschiedener Komplexion des Temperaments und von sehr verschiedener Höhe des In-
tellekts. Das Charakteristische ist nur, dass diese Verschiedenheit bei der allgemeinen Gleichheit
der kulturellen Voraussetzungen, wie sie in dem äusseren Gesamtleben, in wirtschaftlichem und
sozialem Status etc. gegeben waren, in den gemeinsamen Verfassungsformen nicht zum Ausdruck
gelangten.
I. Urzeitlicher Absolutismus.
Die ersten grundstürzenden Wandlungen in dem eben geschilderten Zustande vollzogen
sich auf deutschem Gebiete wohl dadurch, dass eine Reihe ursprünglich in dieser Weise nicht vor-
bandener kriegerischer Motive auftraten. Dahin gehört, wie schon oben angedeutet, die Entwick-
lung des Gefolges, weiterhin der Aufruf zu mehr oder minder regelrechten Beutezügen und die
grosse Zahl derjenigen Erscheinungen, welche auf kriegerische Wanderungen hinweisen. Hiernach
könnte man geneigt sein, das Auftreten dieser Motive auf Wanderung überhaupt zurückzuführen.
Indes dies wäre doch wohl eine zu äusserliche Lösung. Zu Grunde liegt all den Erscheinungen viel-
mehr die Entwicklung einer spezifischen Haltung der Unterordnung, wie man es vielleicht auch schon
ausdrücken könnte, des Dienstes. Ein solcher Begriff als soziales und politisches Motiv kann sich
natürlich nur in einer Kultur eingestellt haben, welche auf irgend eine Weise den Gedanken der
Unterordnung überhaupt schon zu entwickeln im Begriff war. Dabei mag dahingestellt bleiben,
ob dies auf deutschem Gebiete durch eine Fortentwicklung des Wirtschaftslebens, sei es auf noma-
discher oder agrarischer Grundlage oder sonst irgendwie geschah. Soviel ist aber klar, dass mit der
regulären Entwicklung des Begriffs der Unterordnung zugleich eine starke psychologische Wand-
lung vor sich gehen musste. Es gab jetzt ganz anders als früher die Vorstellung von Befehlen und