Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Zivilrechtspflege. 339
bestand dem Fall des präjudiziellen Urteils in allem wesentlichen gleichsieht. Das geschieht bei
unserem heimlichen Präjudiziensystem nicht oder nur sehr selten, da, selbst wenn die Original-
publikation der Präjudizial-Entscheidung nachgeschlagen wird, der Tatbestand in ihr nur in den für
die folgenden Urteilsgründe und den Tenor wesentlichen Punkten zurechtgemacht wiedergegeben
ist, oft auch ganz fehlt. Ist also gegenüber dem jetzigen Rechtszustand im deutschen Prozess in
diesem Punkt etwas zu ändern, so wäre weniger darauf zu sehen, dass die Einheitlichkeit der Recht-
sprechung stärkere Wahrung bekomme, als darauf, dass diese Sicherung aus der Heimlichkeit des
Kommentar- und Präjudiziensammlungs-Wesens in eine offenegesetzlich geregelte Form übergeführt
und dabei für eine sorgfältige Handhabung des Präjudizes, das nur bei gleichem Tatbestand an-
wendbar sein dürfte, gesorgt würde.
Mit dem Verlangen nach einheitlicher Rechtsprechung wird oft, besonders für Handelsstreitig-
keiten, das Verlangenlautnach möglichst genauerBerechenbarkeitderEntscheidung
im voraus. (In gleicher Richtung liegt es auch, wenn unter staatsrechtlicher Betrachtungsweise
gelehrt wird, das Urteil entspreche, wenn es gut und richtig sei, den Erwartungen der öffentlichen
Meinung.) Dabei ist Richtiges und Falsches vermengt. Richtig ist, dass die lex scripta möglichst
klar sein und dadurch dem einzelnen Rechtssubjekt die Richtschnur für sein Handeln und für sein
Verhalten zum Handeln anderer abgeben muss; richtig ist, dass man hier von einer präventiven Auf-
gabe des Gesetzes sprechen kann, das durch seine klare, genaue, möglichst alle Fälle deckende und
Kontroversen vermeidende Fassung die Entstehung von Rechtsstreitigkeiten verhindert, so weit
diese nicht aus offenem Rechtsbruch entstehen und deshalb auch einfach und rasch zu erledigen sind;
richtig ist schliesslich, dass der Gesetzgeber in seinen Vorschriften überall dem „richtigen Recht‘
zum Durchbruch verhelfen soll, und sofern dieses wiederum sich mit dem Willen der Allgemeinhei,
deckt, eine Wechselwirkung zwischen diesem Willen und dem Gesetz eintritt. Unrichtig ist aber-
dass in den Fällen, in denen die präventive Macht der Gesetzes versagt hat, sei es, weil das ob-
jektive Recht unklar gefasst, sei es, weil das subjektive nicht besonders eigenartig und kompliziert
ist, nun auch vom Richterspruch das Gleiche wie vorher vom Gesetz gesagt; werden kann. Die ein-
fachste praktische Probe auf die Doktrin der Berechenbarkeit ergibt, dass sie nicht standhält. Die
Parteien, die sie im Mund führen, sind zugleich die, an deren Prozessführung die Justiz immer Schaden
leidet. Die Rechtskraft des Urteils verlangt Achtung und schliesst die Behauptung der Unrichtigkeit
aus, zu der die Partei, die das Ergebnis des Prozesses vorausberechnet hatte und deren Berechnung
es nicht entspricht, gerade geneigt ist. Das Ideal des einfachen Rechts- und Wirtschaftszustandes, in
dem jeder Gemeindegenosse die Berechtigung und die Rechtswirksamkeit seiner Handlungen sich
ebenso selbst zu bemessen vermag wie ihre sittliche oder religiöse Erlaubtheit, liegt in der Entwick-
lung weit und unwiderbringlich hinteruns. Dafür kann man weder das Gesetz noch die Justiz ver-
sntwortlich machen.
li. In besonderem Sinn ist vom Prozessgesetz Klarheit und Verständlichkeit da
zu fordern, wo es sich unmittelbar an die ohne Prozessvertreter handelnden Parteien wendet. Das
ist in der Prozessordnung in den allgemeinen Vorschriften wie bei der Regelung des amtsgericht-
lichen Verfahrens, des Mahnverfahrens, der einstweiligen Verfügungen und der Zwangsvollstreckung
vielfach der Fall, ohne dass überall jene Gebote bei der Fassung des Gesetzes beachtet wären. Dem
Prozessgesetz ist ganz allgemein der technische Vorwurf zu machen, dass nur in verschwindend
wenigen Fällen ausdrückliche Vorschriften über die Folgen eines Verstosses gegen das Gesetz, über
die Möglichkeit der Heilung eines solchen Verstosses oder eines Mangels und überhaupt über die
zulässigen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe gegeben sind. Wenn es irgend eine Frage gibt, die in
der lex scripta statt im ungeschriebenen Recht entschieden werden sollte, so ist es eben die nach der
zwingenden oder dispositiven Natur der Vorschriften, die die lex scripta enthält und besonders der
Gebote, die sie den Parteien und sonstigen Prozesspersonen gibt, und im Zusammenhang damit die
Frage der Heilbarkeit von Mängeln einer Handlung, die unter solcher Vorschrift vorgenommen ist. Es
lässt sich sehr viel dafür sagen, dass man Wissenschaft und Praxis, zusammen mit den wirtschaft-
lichen Kräften und dem Rechtsempfinden des Volks, materielle Rechtssätze in verhältnismässig
freiem Spiel ausarbeiten lässt; aber wenn der Gesetzgeber einmal Gebote in der starren Form des
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