340 Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Zivilrechtspflege.
Gesetzes erlassen hat, so hat es schlechterdings keinen Sinn, jene rechtsbildenden Faktoren nun
sich an den Folgen der Gesetzesverletzung betätigen zu lassen oder ihnen die „Sanktion‘ des Gesetz-
gebergebots zu übertragen. Im Gegenteil hiesse das den Bock zum Gärtner machen. In der deutschen
Z.P.O. ist die absolute Nichtigkeit von Prozesshandlungen überhaupt nicht geregelt, und die Bestim-
mungen des $ 295 über die Mängelrüge, des $ 567 über die Zulässigkeit der Beschwerde (ebenso der
$8 766 und 793 über Beschwerde in der Zwangsvollstreckung und Vollstreckungsbeschwerde) und
über die Nichtigkeitsklage aus $579 Z.4 sind wahre Muster unklarer, den Laien ganz unverständlicher
und für den Juristen als Kontroversenherde berüchtigter Gesetzesvorschriften. Andererseits wird
dieser Mangel des Gesetzes selbst, der bei der Methode der Gesetzgebung unserer Zeit und dem
schlechten Stand der legislativen Technik kaum zu beseitigen ist, in etwas dadurch ausgeglichen,
dass dem Gericht und dem Gerichtsschreiber für dasamtsgerichtliche Verfahren die Rechtsbelehrung
der Partei und die Mitw rung bei der rechtlich wirksamen Formulierung ihres Willens vorgeschrieben
und in der Zwangsvollstreckung den ausiührenden gerichtlichen Organen die Offizialprüfung der
Gläubigeranträge und Au.träge ın weitem Mass zur Pflicht gemacht ist.
Ein anderer fühlbarer Mangel der Gesetzestechnik haftet der Z.P.O. seit der Novelle von 1900
an. Während eine gute Prozessordnung jedem Anspruch, gleichviel welchem bürgerlichen Recht
er nach Entstehung und weiteren Schicksalen zugehört, wirksamen Schutz gegen Gefährdung und
Verletzung durch rıchterliche Prüfung, Urteil und Vollstreckung gewähren sollte, sind jetzt in der
deutschen Z.P.O. eine Reihe von Vorschriften auf Vorschriften des gleichzeitig mit der Novelle in
Kraft getretenen B.G.B. so eng zugeschnitten, dass sie bei Ansprüchen, die materiellrechtlich nicht
unter der Herrschaft des B.G.B. stehen, unanwendbar sind; da aber die Jurisdiktion der deutschen
Gerichte sich nicht im geringsten mit dem Herrschaftsbereich des B.G.B. deckt, vielmehr, ins-
besondere durch die stete Erweiterung der sog. dispositiven Zuständigkeit in den neueren Prozess-
gesetzen, grundsätzlich ausländische Rechtsverhältnisse ebenso gut wie inländische vor den
deutschen Richter kommen können, so entstehen durch jene, mitdem B.G.B. zusammengewachsenen
Vorschriften der inländischen Prozessordnung notwendig Inkongruenzen und Lücken.
Da wo die Prozessordnung technische Ausdrücke in ihren Vorschriften verwendet, die sonst
hauptsächlich im materiellen Zivilrecht vorkommen (2. B. Wolnsitz, Auftrag, Anspruch, Gläubiger
und Schuldner, Rechtsnachfolge, Veräusserung, Abtretung, guter Glaube, Erbfolge, Verein und Ge-
sellschaft, unbewegliche Sache, Forderung, Berechtigung — um nur einiges zu nennen), da ist der
mit dem Ausdruck zu verbindende Begriff in erster Linie aus dem Zusammenhang der Prozessord-
nungsvorschriften, also nach der prozessualen ratio leyıs zu bestimmen, und nicht nach dem zufällig
im gleichen Staatsgebiete koexistenten Zivilgesetzbuch (Vgl. Rhein. Z. 4 1 fgde.).
Schliesslich ist einer anderen sehr bedenklichen Folge unseres Kodifikationssystems zu ge-
denken: des zwischen zwei Gesetze Fallens der Grenzmaterien, deren Behandiung dann doch den
sonst ganz aul die Anwendung geschriebener Gesetze eingeübten Praktikern überlassen bleiben muss.
Aus der langen Reihe solcher zwischen Z.P.O. und B.G.B. durchgefallenen Rechtsfragen nenne ich
wenigstens die drei wichtigsten: die der materiellrechtlichen Vertretungsmacht in ihrem Verhältnis
zur Parteistellung des Prozesses, die der ganzen Beweislast und die der materiellen Wirkungen des
Urteils — denn dıe Ansätze zu einer Regelung der beiden letzteren Materien im B.G.B. und der Z.P.O.
sind zu kümmerlich, um selbst der kräftigsten Analogie-Auslegung einen Halt zu geben.
12. Besondere Aulmerksamkeit wendet man, unter dem Einfluss rechtsvergleichender Dar-
stellungen de» angloamerikamischen Rechts gegenüber den europäisch-kontinentalen Systemen, der
Erscheinung der kerichtsregeln zu, die, ein fest redıgierter stilus curiae für die Forın des
Verfahrens, das eigentliche Gesetz entlasten und ihm gegenüber den doppelten Vorteil der Abfassung
durchdie Sachkundigsten und derleichten Abänderhehkeit und Ergänzuugsfähigkeit tragen, während
man auf der andern Seite zu ihren Nachteilen eine durch dieses System geweckte übermässige
Regulierungslust der Gerichte und die Ge.ahr des Erstickens der grossen Pruzessgrundsätze unter
den kleinen Formregeln zählt. Mit der grösseren Dezentralisierung in der Gerichtsverfassung und
der feineren Dilierenzierung der Verlahrensarten nach den Arten der Streitsachen wird die Einführung
und Handhabung des Kegel-Systems ımmer schwieriger. (Sehr warın für das Regel-System