Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

K. Schulz, Die Entlastung des Reichsgerichts. 351 
  
Einschlag ist verstärkt worden. Als dauernde Einrichtung wird man die Verstärkung der Senate, 
sei es auch nur um 2 Mitglieder, und den Wechsel des Vorsitzes nicht beibehalten wollen. 
Das Difformitätsprinzip vermag ich nicht für erledigt und dauernd beseitigt zu halten. 
Ich verkenne jedoch nicht, dass nur geringe Aussicht besteht, es im Reichstage durchzusetzen und 
zu einer praktischen Erfahrung über seine Wirkung zu gelangen. 
In Erwägung zu ziehen ist der Verzicht auf die „freiere Gestaltung‘ der ıevisio in jure, mit 
anderen Worten die Annäherung an den formalen Charakter der Kassation oder auch der preussischen 
Nichtigkeitsbeschwerde. Sieht man darin eine Unterbindung der besten Kraft des Reichsgerichts, 
so werden wieder alle bisher erörterten Mittel der Abhilfe, nämlich die weitere Erhöhung der Re- 
visionssumme, Difformitätsprinzip, Vorprüfung, völlige oder fakultative Beseitigung der mündlichen 
Verhandlung, Ausscheiden landesrechtlicher Rechtssachen, Herabsetzung der Mitgliederzahl der 
Senate, Sukkumbenzstrafen und schliesslich auch die Vermehrung der Senate und die Beschränkung 
des Plenum auf die zwei dissentierenden Senate von den einen vorgeschlagen, von den anderen be- 
kämpft werden. Ich möchte annehmen, dass die Wurzel dieses Zwiespaltes der Meinungen der 
unausgeglichene Gegensatz der Anschauungen über den eigentlichen Zweck der dritten Instanz ist. 
Soll sie dem Privatinteresse des Einzelnen, dem Ringen um sein Recht oder dem öffentlichen Zweck 
der einheitlichen Rechtsprechung und der Fortbildung des Rechts dienen? Das letztere haben die 
Regierungen und einflussreiche Vertreter von Wissenschaft und Praxis wiederholt und mit aller 
Schärfe betont, aber immer wieder hat der erstere Gesichtspunkt im Reichstag und namentlich bei 
der zur Verfolgung des Parteiinteresses berufenen Rechtsanwaltschaft eifrigste Vertretung gefunden. 
Stimmen der Wissenschaft haben gesagt: „Die Revision ist nur gegen solche Entscheidungen zu- 
lässig, welche gleichzeitig das Interesse der Partei an einem gerechten Rechtsschutz im Einzelfall 
wie das Interesse der Gesamtheit an einer einheitlichen Rechtsprechung des Gerichts in allen Fällen 
gefährden. Wo nur das eineInteresse ohne das andere verletzt ist, entfällt der Grund derRevision.‘'12) 
Oder: „DasPrivatinteresse ist bei der Revision das Vehikel des öffentlichen Interesses.‘ Leider haben 
die Ausgestaltung des Rechtsmittels und die ihm gesetzten Beschränkungen dieses Ziel durchaus 
nicht erreicht. Tatsächlich bestimmt zurzeit das Privatinteresse die Einlegung der Revision. Ob 
eine andere Entscheidung des Prozesses als die der zweiten Instanz im öffentlichen Interesse liegt, 
ob die Einbeitlichkeit der Rechtsprechung sie erfordert oder eine zweckmässige Fortbildung des 
Rechts — das alles wird nicht geprüft und von der Partei niemals erwogen.13) So gelangt eine Fülle 
von Rechtssachen an den Gerichtshof, deren Entscheidung für dessen höheren Zweck völlig gleich- 
gültig ist. Das Reichsgericht muss zu viel für seine wichtigere Bestimmung völlig unnütze Arbeit 
leisten. Das Privatinteresse bei der Einlegung der Revision erdrückt das öffentliche Interesse. 
Die wichtigste Frage für die künftige Gestaltung des Rechtsmittels dürfte daher sein: Auf 
welche Weise könnte dem öffentlichen Interesse ein stärkerer Einfluss auf die Einlegung des Rechts- 
mittels verschafft werden ? 4) 
22) Sohmidt, Lehrbuch des Zivilprozessrechts. 2. Aufl S. 797. 
23) Juncokineiner im Reichstag am 14. April 1910 gehaltenen Rede. Stenographische Berichte S.2369D, 
Junck behauptet, die Partei werde es nicht verstehen, dass ihr die Revision versagt sei, weil die Entschei- 
dung ihres Prozesses nicht zur Erhaltung der Rechtseinheit nötig sei. Zugegeben. Nur wird die Partei es ebenso 
wenig verstehen, wenn der Rechtsanwalt die E nlegung der Revision verweigert, weil das Urteil 2. Instanz auf 
tatsächlicher Erwägung beruht oder die Beschwerdesumme nur 3000 Mk. beträgt. Das Privatinteresse lehnt sich 
gegen Jede Beschränkung der Revision auf. Das Reichsgericht ist nicht geschaffen, um den „Rechtsanspruch des 
Deutschen Bürgers zu sichern‘. Das ist die Aufgabe der ersten und zweiten Instanz. 
1%) Gänzlichen Ausschluss des Privatinteresses bei der Revision erstreben die Ausführungen von 
Wildhagen bereits in D. Jur. Zeit. 1908 S.924. Der Gedanke ist weiter verfolgt in Wildhagen, 
Der bürgerliche Rechtsstreit. Berlin, 1912. In dieser sehr beachtenswerten und eindrucksvollen Schrift 
werden die zweifellosen Missstände in der Revisionsinstanz auf die bestehende Verknüpfung des privaten 
mit dem öffentlichen Interesse zurückgeführt und deshalb die dritte Instanz ausschliesslich für das öffent- 
liche Interesse der Erhaltung und Förderung der Rechtseinheit gefordert. Es sind auch Vorschläge gemacht, 
wie die Gerichte der ersten und zweiten Instanz zu Organisieren und wie das Verfahren zu ordnen ist, 
damit zwei Instanzen dem privaten Interesse der Rechtsuchenden ausreichend genügen.
	        
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