Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Ernst Beling, Strafrechtspflege. 359 
lichen Sinne ist, sondern zahlreiche Personen gerade produktiver Tätigkeit entzieht. Generell 
wird sich sagen lassen, dass der Gedanke der Proportionalität von Zweck und Mittel im heutigen 
Recht noch nach manchen Richtungen hin nicht genügende Beachtung gefunden hat. Nament- 
lich lässt sich das heute noch unverhältnismässig entwickelte Schreibwerk stark beschneiden (in 
dieser Hinsicht wird heute nicht mit Unrecht auf das Vorbild Englands hingewiesen). Auch sollten 
die Opfer, die die Gesamtheit in Form von Richterkraft und -Zeit und Kosten bringt, sowie die 
Eingriffe gegen die Einzelnen noch viel grundsätzlicher auf den Gedanken abgestimmt werden, 
dass sich ihre Zulässigkeit und deren Mass nach der Wichtigkeit der Strafsache bestimmt. 
Eine Aufrollung aller Einzelprobleme ist an dieser Stelle nicht möglich. Andeutungsweise 
sei Folgendes hervorgehoben: 
1. Die Befugnis zur Auslösung der Strafgerichtsbarkeit versagt das geltende deutsche Recht 
grundsätzlich dem Einzelnen; nur der Staat befindet grundsätzlich darüber, ob ein Strafprozess 
stattfinden soll: Offizialprinzip, nicht Privat- oder — wie in England — Popularklage. Mit Recht, 
denn einesteils gefährdet die Überlassung der Initiative an Private das Gesamtheitsinteresse, weil 
dabei zahlreiche Strafsachen aus mehr oder minder zufälligen Gründen — Fehlen des Interesses 
der Einzelnen, Scheu vor Kosten und Mühe — auf sich beruhen bleiben, anderenteils belastet sie 
die Privaten mit einer Tätigkeit, die dem Gesamtwohl dient. (Nur ausnahmsweise, bei bestimmten 
Deliktsarten, insonderheit Beleidigung, mag der Gedanke durchschlagen, dass es konkrete Fälle 
gibt, in denen die Gesamtheit an der Betreibung der Verfolgung nicht stark genug interessiert ist, 
sodass folgeweise — wie es das geltende Recht tut — dem einzelnen Interessenten bei derartigen 
Delikten ein Privatklagerecht verlieben wird.) Ist aber der Staat souverän in der Entschliessung 
darüber, ob es zu einem Strafprozess kommen soll, so sind zwei Forderungen zu stellen: einmal, 
dass das Staatsorgan, das den Rechtsschutz für den Staat begehrt, nicht identisch ist mit 
demjenigen Staatsorgan, das darüber zu befinden hat, ob der Rechtsschutz dem Staate oder dem 
Beschuldigten zuge währen ist; daher nicht Inquisitionsprozess — Verfolgung von richter- 
lichen Amts wegen —, sondern Organisation einer Staatsanwaltschaft als staatlichen Klage- 
organs. Sodann: Unterstellung der staat Itschaftlichen Entschliessung über die Klageerhebung 
unter Garantien gegen unbegründete Unterlassung der Klageerhebung. Im Falle der staatsan- 
waltschaftlichen Ablehnung der Klageerhebung muss entweder dem interessierten Einzelnen der 
Zugang zum Strafgericht als Kläger eröffnet werden — subsidiäre Privatklage, wie in Österreich — 
oder es muss ihm ein gerichtliches Verfahren offen stehen, in dem das Gericht über die Frage ent- 
scheidet, ob die Staat ltschaft zu klagen habe (Klageprüfungsverfahren, so das deutsche Recht). 
2. Die Frage, wer sich einen Strafprozess als Beschuldigter aufnötigen lassen muss, kann 
niemals dahin beantwortet werden, dass das Prozessieren nur gegen Schuldige rechtmässig sei; 
denn die Feststellung, ob Strafbarkeit gegeben ist, steht erst am Ende des Prozesses. 
Wohl aber ist denkbar, dass persönliche Privilegien der Unverfolgbarkeit geschaffen werden. 
Das geltende Recht stellt ein solches für Abgeordnete auf, nicht sowohl aus der Erwägung heraus, 
dass volle Freiheit der Aussprache gewährleistet sein muss — denn diese Erwägung führt nicht zu 
blosser Unverfolgbarkeit, sondern zu Straflosigkeit der Berufsausübung —, als vielmehr aus der 
Erwägung heraus, dass der Abgeordnete nicht um eines Prozesses halber die Teilnahme an der parla- 
mentarischen Tätigkeit soll versäumen müssen, worunter möglicherweise seine Wähler und die 
Partei sowie die Fraktion, der er angehört, leiden würden. 
$. Eine mit dem Klagemonopol ausgerüstete Staatssnwaltschaft (oben Ziff. 1) muss not- 
wendig zugleich auch dem Legalitätsprinzip unterworfen sein, d. h. es muss ihr gesetzlich zur Amts- 
pflicht gemacht sein, ihr Einschreiten nicht wegen Inopportunität zu unterlassen, wo nach dem 
Gesetz keine Verfolgungshindernisse vorliegen. Das Opportunitätsprinzip, das heute zahlreiche 
Anhänger hat, müsste nicht nur das Vertrauen auf die Objektivität der Strafverfolgung gefährden, 
sondern auch den staatsanwaltschaftlichen Beruf schwer erträglich machen, weil auch bei objek- 
tivster Amtsführung Verdächtigungen unausbleiblich wären. Nur bestimmten Durchbrechungen 
des Legalitätsprinzips lässt sich, möglichst genaue Fixierung der Voraussetzungen für Unterlassung 
der Strafklage vorausgesetzt, das Wort reden.
	        
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