366 Friedrich Oetker, Schwurgericht und Schöffengericht.
Das deutsche System der Spezialbefragung, das auf der Fortbildung des französischen duroh Überweisung
der vollen Schuldfrage an die Geschworenen beruht und in den Hauptpunkten mit dem österreichischen Rechte
übereinstimmt, scheidet drei Fragarten. Die Hauptfrage geht dahin, ob der Angeklagte sich des bestimmten
bei Eröffnung des Hauptverfahrens angenommenen Verbrechens nach Massgabe der Tatbeschreibung im Gesetze,
z.B. der vorsätzlichen, mit Überlegung ausgeführten Tötung eines Menschen schuldig gemacht habe. Eine Hilfs-
frage („Eventualfrage“ in Österreich) tritt hinzu, wenn nach dem Verhandlungsergebnis mit einer andern als
der bisherigen Beurteilung der Tat, z. B. mit Annahme von Erpressung statt Raubes, zu rechnen ist. Bejahung
der Hauptfrage macht die Hilfsfrage abfällig, Nebenfragen („Zusatzfragen“ in Österreich, hier in noch
weiterer Verwendung?) richten sich auf Erschwerungsgründe (Einbruch beim Diebstahl), Milderungsgründe (Rei-
zung als Totschlagsanlass) oder Strafaufhebungsgründe, die für bestimmte Delikte gesetzlich anerkannt sind
(Löschen des Brandes vor Entdeckung pp.). Nebenfragen setzen Bejahung der Hauptfrage voraus. Eine Mehr-
zahl von Angeklagten oder von strafbaren Handlungen führt zu der entsprechenden Zahl getrennter Schuld-
fragen (in Österreich nicht scharf durchgeführt).
Die starke Vernachlässigung der Fragstellungslehre in der Literatur hat zu der Meinung geführt (v. Hye-
Glunek, Schwarze, H. Meyer pp.), dass sie ein unlösbares Problem sei.
Die Präzisierung und Gliederung des Beurteilungsstoffes in den Fragen und die Rechts-
belehrung der Geschworenen durch den Vorsitzenden verhüten keineswegs immer formell oder
materiell mangelhafte Antworten, einen unvollständigen, einzelne Fragen, Fragteile nicht erledi-
genden oder sich widersprechenden, z. B. die Haupt- und Hilfsfrage, obwohl diese einander aus-
schliessen, zugleich bejahenden Spruch. Die Geschworenen sind dann unter Einleitung des Be-
richtigungs-Verfahrens (in Frankreich auf der Praxis beruhend, sonst gesetzlich bestimmt) zur
Behebung des Fehlers zu veranlassen. Nur ein von solchen Mängeln freier Spruch kann Grundlage
des Urteils sein.
In England wird der Wahrspruch mündlich abgegeben und erst protokolliert, nachdem ötwaige Bedenken,
Unklarheiten durch Befragung der Geschworenen und eventuell durch Änderung des Spruchs ihrerseits gehoben
worden sind; ein formelles Berichtigungsverfahren ist bei dem freien Verkehr zwischen Richter und Jury erübrigt.
Die Beweiswürdigung und die Gesetzesauslegung der Geschworenen sind an sich nicht
Gegenstand richterlicher Nachprüfung. Doch kann der Spruch abgewiesen werden, wenn sich nach
einstimmiger Ansicht der Richter die Geschworenen in der Hauptsache zum Nachteil des Ange-
klagten geirrt haben (code 352, Ges. 9. 6. 1853 lässt Mehrheit der Richter genügen; Österr. 332;
Ungarn 371, Deutsch. Reich 317; Italien 509: mit Beschränkung auf Mehrheits-Wahrspruch,
erweitert durch ital. E. 1909 art. 42). Dann endgültiger Entscheid durch eine Jury der nächsten
Session, möchte der neue Spruch auch ebenso oder noch schärfer (Beschränkungen in letzterer
Hinsicht nach französ., österreich. pp. Praxis) ausfallen. Bei der Zweischneidigkeit der Massregel
hätte der deutsche E. nicht von Irrtum „in der Hauptsache“ absehen sollen.t)
Wenn der engl. Richter gegenüber einem seiner charge widersprechenden verurteilenden Verdikt einen
anderen Spruch fordert, kommt’s nicht zur Verweisung; die Jury fügt sich.
Deutsch. Keıch (262, 297, 307) fordert 2/;-Mehrheit und deren Konstatierung im Spruch,
soweit die Schuldfrage zum Nachteil des Angeklagten entschieden wird (ebenso die grosse Mehr-
zahl der frühern deutsch. Ges. im Gegensatz zu franz. Ges. 9. 6. 1853: einfache Mehrheit); Österr.
329 (ähnlich Ungarn 368) lässt, sonst übereinstimmend, zur Verneinung von Strafausschliessungs-
und Milderungs-Gründen einfache Mehrheit genügen.
Dem Wahrspruch gehen voran die Vorträge der Parteien zur Schuldfrage, zwischen Wahr-
spruch und Urteil liegen ihre Ausführungen zur Straffrage. Anders die engl. Hauptverhandlung, die
ein gesondertes Stadium des Plädierens nicht kennt, die Aufgabe der Parteien in die Beweisführung
konzentriert (wohltuende Sachlichkeit der Partei-Ausführungen gegenüber der französ. Rhetorik).
Den Vorträgen zur Schuldfrage wird nach deutsch-österreichischem (ungarischem) Rechte
(und ital. E. 09 art. 39, 40) durch die zuvor (diese zweckmässige Folge empfohlen von Walther pp.;
anders Italien, Norwegen) — unter Beteiligung der Parteien (so weitgehend ital. E. 09 art. 39)
®) 319 (Ungarn 358) lässt Zusatzfragen auf Schuldausschliessungsgründe zu. Allein Trennung der einen
Schuldfrage in der Abstimmung kann zu verschieden zusammengesetzten Mehrheiten für die einzelnen Teile und
somit leicht zu einer Scheinmehrheit für die Schuldannahme führen.
4) Besser als Verweisung wäre eigene Entscheidung der bezüglichen Schuldfrage durch das Gericht zu-
gunsten des Angeklagten.