Wolfgang Michael, Geschichte des Parlamentarismus in England. 391
die Opposition. Sie hat als solche die Aufgabe, die Massregeln der Regierung und die von der Ma-
jorität beschlossenen Gesetze zu kontrollieren, zu kritisieren, zu bekämpfen. Sie muss immer so
tun, als ob bei ihr das Interesse der Nation viel besser aufgehoben sein würde, als bei den gegenwär-
tigen Machthabern. Sie darf freilich auch nicht zu viel versprechen. nicht einen Zukunftsstaat
malen, in dem alle Wünsche erfüllt sind, denn sie kann in jedem Augenblick, d. h. durch jede Neu-
wahl zu dem Rollentausch gezwungen werden. den herbeizuführen ihr vornehmstes Bestreben war.
Ist dasgeschehen, so besitzt sie nun selbst die Majorität, bestimmt den Charakter der Gesetzgebung,
besetzt mit ihren eigenen Leuten die Ministerposten und muss dem Lande zeigen, wie weit sie fähig
ist, ihre Versprechungen wahr zu machen. Die Opposition kämpft mit allen Mitteln, sie droht im
18. Jahrhundert mit der Ministeranklase, im 19. mit dem Tadelsvotum, aber sie versucht nicht,
die Regierung wirklich lahm zu legen. Denn beiden Parteien gemeinsam ist der starke, über jeden
Zweifel erhabene Patriotismus des Engländers, beide sindsie schlechthin national, beide stehen sie
auf dem Boden der Monarchie, überhaupt der Verfassung.
Mit diesem System trat England in das 19. Jahrhundert ein. In der Zusammensetzung des
Unterhauses hat sich seither vieles geändert. Die Union mit Irland (1801), welche eıst durch die
Katholikenemanzipation von 1829 ihre volle Bedeutung für das Parlament erhielt, brachte 100
irische Abgeordnete ins Unterhaus. d. h. eine starke Gruppe mit einseitig irischen und damit teil-
weise unenglischen Interessen und Gesichtspunkten. Die stärkste Umeestaltung erfuhr aber die
Zusammensetzung des Unterhauses durch die Parlamentsreform von 1832. Im 18. Jahrhundert
hatte auch das Unterhaus einen stark aristokratischen Charakter gehabt. Es gab eine grosse Zahl
kleiner Wahlflecken, deren Vertreter tatsächlich durch den Grundherrn einfach ernannt wurden.
So rechnete man sich aus, dass von den 658 Mitgliedern des Unterhauses 300 unter dem Einflusse
von Lords des Oberhauses, 171 unter dem anderer Land :d:lleute, 16 unter dem der Krone und nur
171 frei gewählt wurden. Jene Wahlflecken. die sogenannten rntten boronzhs. waren zuz:iten in
Menge von der Krone kreiert worden, während andererseits grosse städtische Zentren, wie Man-
chester und Birmingham. gar keine Vertretung im Parlamente besassen. Die hierin liegenden Un-
gleichheiten nahm man jetzt nicht mehr so gleichmütig hin, wie in früherer Zeit, wo man fand, dass
es weniger auf die Zusammensetzung des Parlaments ankomme. als auf den Geist. der in ihm walte,
und als Wellinston noch 1830 erklärte, er würde, wenn er ein Parlament für irgendein Land einzu-
richten bätte, sich genau nach dem Vorbild des englischen richten. da befand er sich nicht mehr in
Übereinstimmung mit der Volksmeinune. Die 183% durchgeführte Parlamentsreform bestand
also zunächst in einer Neuordnung der Wahlkreise, aber zucleich ward in den Wahlbezirken der
Kreis der Wähler erweitert. so dass nunmehr die breiten Mittelklassen im Unterhause ausschlag-
gebend wurden. Noch zweimal ward das Wahlrecht zum Unterhause r»formiert, nämlich 1867 und
ferner durch die Gesetzgebung von 1884 und 85. Ts ist: immer weiteren Kreisen der Bevälkerung
verliehen worden, sodass England heute von unserem System d’s alleemeinen gleichen Wahlrechts
nicht mehr weit entfernt ist. Diese Reformen haben bereits zur Demokratisierung des Unterhauses
viel beigetragen und werden norh ferner dahin wirken.
Eine andere Wirkung des Eindringens neuer Elemente besteht in der Auflösung des alten Par-
teischemas. Es gibt nicht mehr zwei. sondern, wenn man auch nur die Hauptgruppen der Iren und
der Arbeitervertreter als besondere Parteien gelten lässt. deren vier. Immerhin wirken Tradition
und Praxis dahin, dass durch feste Allianzen zwischen den verschiedenen Parteien doch wieder die
alte Zweiheit von Regierung und Opposition zum Vorschein kommt, so dass an der hergebrachten
Technik des Parlamentarismus auch heute nicht so viel geändert erscheint, wie manche glauben.
Anders steht es freilich mit der Frage, wie weit durch diese All’anzen die ursprünglichen Programme
der führend-n Parteien auf jeder Seite verschoben werden können. Es braucht nur daran erinnert
zu werden, wie gegenwärtig (1911) die liberale Regierung zum Teil die Politik der Iren besorgt, nur
weil sie ohne diese nicht besitzen würde, was der Engländer .,a working majority‘ nennt.
Zum Schlusse noch ein Wort über das Oberhaus. Es hat sich trotz der oft ausgesprochenen
Forderung nach einer Reform. bis in die allerneueste Zeit, in seiner historischen Stellung behauptet.
Als gesetzgebender Faktor stand es mit gleichem Rechte neben den Commons. Nur gegenüber
solchen Vorlagen (den sogenannten money bills), welche Finanzfragen betreffen, war durch die
Praxis der Jahrhunderte zuerst ein Vorstimmrecht, dann ein Alleinbewilligungsrecht der Gemeinen