400 Theobald Ziegler, Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland.
Das Bevormundungssystem des Absolutismus wie das des aufgeklärten Despotismus hatte ver-
sagt, folglich hatte es auch den Anspruch auf Autorität und Pietät verwirkt. Das hatten Friedrich
Wilhelm III. und Alexander I. in ihrem Kalischer Aufruf an die Deutschen vom 25. März 1813
anerkannt und eine Verfassung versprochen, die „aus dem ureigenen Geist des deutschen Volkes
heraustreten“ sollte. Daraufhin ist das Volk in Preussen unter dem Ruf: „Mit Gott für König
und Vaterland!“ ins Feld gezogen und hat Gut und Blut an die Befreiung von der Napoleonischen
Fremdherrschaft gesetzt. Das war nicht Sache einer Partei, sondern die Sache des ganzen Volkes;und
es waren keine radikalen Hoffnungen und Wünsche, die das Volk erfüllten, die Wortführer, ein
Dahlmann im Norden, ein Anselm Feuerbach im Süden, bürgten für Masshaltung und Beschränkung
innerhalb bestimmter nicht allzuweit gezogener Grenzen.
Aber der Friedensschluss und was darauf folgte, die Neugestaltung Deutschlands durch
den Wiener Kongress und die durch ihn festgestellte Bundesakte, entsprach nicht einmal den be-
scheidensten Forderungen. Weder wurde das alte deutsche Reich mit seiner kaiserlichen Spitze
wiederhergestellt, noch Preussen, das sich als der „Schirmvogt‘“ Deutschlands bewährt hatte, die
Führung übertragen, sondern der Bundestag in Frankfurt a. M. eingesetzt, der nur ein Schatten
der Einheit, ein loses Bundesverhältnis darstellte und sich rasch noch viel macht- und rechtloser den
einzelnen Bundesgliedern gegenüber erwies, als man erst gefürchtet hatte. Der Partikularismus und,
was fast noch schlimmer war, der Dualismus vonÖsterreich und Preussen hatte einen traurigen
Sieg davon getragen und verurteilte nun fünfzig Jahre lang Deutschland zu kläglicher Ohnmacht.
Und der Bundestag war eine Vertretung lediglich der Regierungen, das Volk blieb völlig unvertreten,
von einem deutschen Parlament war keine Rede.
So war der Parlamentarismus vom Ganzen absolut ausgeschlossen. Dagegen enthielt die
Bundesakte in ihrem $ 13 die Bestimmung: ‚In allen Bundesstaaten wird eine landesständische
Verfassung stattfinden‘. Allein was hiess das: ‚wird stattfinden‘ ? War das eine Verpflichtung oder
eine Forderung oder gar, wie man bald genug spottend meinte, eine blosse Prophezeiung? Prophe-
zeiungen aber brauchen ja nicht in Erfüllung zu gehen. Und wirklich dachte in Österreich Metter-
nich keinen Augenblick an die Einlösung dieses in der Bundesakte niedergelegten Versprechens, und
auch in Preussen wusste er trotz wiederholter Erneuerung der Zusage durch den König, dass „die Re-
präsentation des Volkes werde gebildet werden‘, die Erfüllung erst zu verzögern, dann definitiv zu
hintertreiben. Über Provinzialstände, in deren Zusammensetzung dem Grossgrundbesitz der Löwen-
anteil zufiel und deren Rechte und Tätigkeitsbereich kümmerlich eng begrenzt waren, liess sich
die preussische Regierung vorläufig nicht hinausdrängen. Eine von Görrtes dem König überreichte
Bitte um Erlass einer Verfassung wurde ungnädig zurückgewiesen, und das Versprechen, die
Provinzialstände sich zu einer „Repräsentantenkammer‘‘ auswachsen zu lassen, noch einmal nicht
gebalten.
Dagegen beeilte man sich in einzelnen der kleineren deutschen Staaten, allen
voran in Weimar unter Karl August, jene Zusage der Bundesakte einzulösen, „eingedenk der
Vorschrift und des Sinnes des deutschen Bundesvertrages“. In Süddeutschland folgte man 1818
und 1819 nach. Dabei kam es in Württemberg zu jenen schweren Kämpfen um die Vertragsidee
und um das „gute alte Recht“, das in Wirklichkeit freilich kein Recht und vor allem kein gutes Recht
mehr war. Trotz der wundervollen Gedichte Uhlands war der ganze Inhalt dieses Kampfes, wie
Hegel richtig sagte, doch nur „auf die unfruchtbare Behauptung eines formellen Rechts mit Advo-
kateneigensinn beschränkt, dem Eigensinn, da sich in dem Formalismus des positiven Rechts und
dem Standpunkt des Privatrechts zu halten, wo es sich vom vernünftigen und vom Staatsrecht han-
delte‘‘. Nachdem aber die Verfassungen einmal gegeben waren, entwickelte sich im Süden ein reges
parlamentarisches Leben, das nur leider von Anfang an darunter litt, dass es eben der kleine und
enge Boden dieser Partikularstaaten war, auf dem es sich abspielte: es fehlten ihm die grossen Ge-
sichtspunkte und es fehlte ihm das volle Verantwortungsgefühl, wie jene nur in grossen Staaten und
wie dieses nur in mächtigen und durch ihre Macht weltgeschichtlich bedeutungsvollen Staaten ge-
wonnen werden kann. Man sieht dies vielleicht am deutlichsten daraus, dass die dreissigjährige
parlamentarische Schulung der Süddeutschen im Frankfurter Parlament ihnen keinen Vorsprung
und kein Übergewicht verschafft hat, und dass die V erhandlungen des vereinigten Landtags in