402 Theobald Ziegler, Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland.
Allem voran aber erhob sich mit besonderem Nachdruck der Ruf nach einem einheitlichen
deutschen Parlament, das dann auch über den Kopf des plötzlich nachgiebig gewordenen Bundes-
tags hinweg unverhofft rasch und leicht in der Paulskirche zu Frankfurt a. M. zusammentrat. Der
Jubel und die Freude des Volkes war unbeschreiblich; ihr gab die Inschrift über dem Präsidenten-
stuhl den charakteristischen Ausdruck in den Worten:
Des Vaterlands Grösse, des Vaterlands Glück,
O schafft sie, o bringt sie dem Volke zurück!
Zur Erfüllung dieser grossen Aufgabe hatte man nur leider versäumt, der sich souverän füh-
lenden konstituierenden Versammlung eine starke Zentralgewalt zur Seite zu stellen, und damit
fehlte ihr, wie sich bald herausstellte, die Macht zur Durchführung ihrer Beschlüsse. Auch das hing
mit der parlamentarischen Entwicklung in den deutschen Mittel- und Kleinstaaten zusammen.
In den Zeiten der Reaktion hatte man sich gewöhnt, Volksvertretung und Regierung als Gegensätze
oder gar als Feinde zu betrachten und darüber ähnlich wie einst in Frankreich vergessen, dass sich
einLand wohl ohne Parlament, aber niemals ohne Regierung regieren und verwalten lässt. Sokonnte
man es jetzt versuchen, ohne eine solche fertig zu werden. Als man dann, zu spät, die Lücke aus-
füllte und die Nationalversammlung durch den „kühnen Griff‘ ihres ersten Präsidenten den Erz-
herzog Johann als Reichsverweser an die Spitze stellte, da war er ein Johann ohne Land und ohne
Macht, die Regierungen der Einzelstaaten hatten sich von ihrem ersten Schrecken bereits wieder
erholt; und so widersetzte sich namentlich Preussen mit Nachdruck jedem Eingriff dieser machtlosen
Zentralgewalt. Das Problem, wie sich auch abgesehen vom Dualismus zwischen den beiden Gross-
mächten Preussen und Deutschland zueinander stellen und ineinander verschmelzen sollten, hatte
sich damit aufgerollt, es war nicht das am leichtesten zu lösende. Aber so nahe es liegt, angesichts
solcher Machtlosigkeit über den Doktrinarismus dieses um die „Grundrechte“ sich streitenden
„Professorenparlaments‘ zu spotten, so wäre das doch im höchsten Grad ungerecht und oberfläch-
lich geurteilt. Gemessen an unserem Reichstag oder selbst an der französischen Konstituante von
1789 ist es eine Versammlung von Rittern des Geistes gewesen, auf die wir allen Grund haben stolz
zu sein und heute noch und heute mehr denn je sehnsuchtsvoll wie auf ein entschwundenes Ideal
zurückzublicken. Niemals war der Ernst und das Verantwortlichkeitsgefühl, wie die Zahl be-
deutender Menschen nach Talent und Rednergabe, nach Charakter und Patriotismus in einer Ver-
sammlung grösser, hier war wirklich die Elite des deutschen Volkes versammelt. Und auch sachlich
ist es nicht so, wie man oft sagt: dass was diesem ersten deutschen Parlament misslungen sei, erst
zwanzig Jahre später Bismarck sozusagen aus dem Nichts heraus geschaffen habe. Vielmehr,
ohne das Frankfurter Parlament zwanzig Jahre nachher kein Bismarck und kein deutsches Reich.
Denn um was handelte es sich in der Paulskirche? Freilich auch um die Grundrechte der
Einzelnen und des Volks im ganzen, aber vor allem doch um die gar nicht individuelle, sondern um
die grosse nationale Frage der Einheit und der Gestaltung des deutschen Volks zu einem Ganzen.
1815 hatte man eine Lösung versucht, die keine war: man hatte für zwei Grossmächte Platz gelassen,
wobei notwendig die eine — es war Preussen — zu kurz kommen musste, und man hatte die Einheit
aller so lose als möglich gestaltet, damit ihr zu lieb keinerdasOpferder Souveränetät zu bringen habe.
Wollte man eine bessere Lösung und ein strafferes Band — und das wollte man 1848 wirklich —, so
gab es nur eine Lösung, die Einigung unter Preussens Führung und, entgegen dem ersten der Na-
tionalversammlung vorgelegten Verfassungsentwurf, die völlige Hinausdrängung Österreichs aus
dem deutschen Staatenverband; denn nur jenes war eine wirklich deutsche, dieses eine zu zwei
Dritteilen fremdländische Macht. Von dieser Lösung wollten freilich die Parteien zur Rechten und
zur Linken aus den entgegengesetztesten Gründen nichts wissen, und so kam es zur Scheidung in
die beiden grossen Gruppen der Grossdeutschen und der Kleindeutschen. Allein trotz aller Anti-
pathien gegen Preussen und seinen damaligen König siegte in der Versammlung der politisch kühle
Verstand über das romantisch oder religiös oder freiheitlich fühlende Herz, und nach mancherlei
Schwankungen wurde, freilich mit der geringen Majorität von nur 4 Stimmen, das Erbkaisertum
akzeptiert und darauf von 290 Stimmen gegen 248, die sich der Wahl enthielten, der König von
Preussen zum deutschen Kaiser gewählt. Dieser König war Friedrich Wilhelm IV., und er versagte.