Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Friedrich Tezner, Entwicklung des Parlamentarismus in Österreich-Ungarn. 411 
politischen Bewegung für den Aufbau der ganzen Monarchie auf dem Grundsatze auto- 
nomer Organisation seiner Nationen als Ziel vorschwebt. Für die Sicherung 
einer modernen Anforderungen entsprechenden Aktionsfähigkeit des Ganzen erschien die Fest- 
setzung der Einheit des gesamten Heereswesens, also auch des Heeres- 
ergänzungswesens,eines Reichssteuern umfassenden Reichsfinanzwesens, die 
Erhebung des ganzen Reichs zu einer Wirtschaftseinheit und die Berufung des 
allgemeinen österreichischen Reichstags zur parlamentarischen Behandlung 
dieser Reichsangelegenheiten unentbehrlich (88 7, 36 e—h, 37, 38). Die historischen Länder, 
teils ehemalige Nationalstaaten, teils ehemals ständisch organisierte Territorien, die durch 
Landtage auf halb ständischer, halbkonstitutioneller Grundlage repräsentiert 
werden sollen, dauern, wie dies auch nach der Aprilverfassung der Fall gewesen wäre, als Kron- 
länder fort ($$ 1, 9, 70 ff, 77, 78). Die Zuständigkeit dieser Landtage wird jedoch im Einklange 
mit den Festsetzungen des Entwurfs des Kremsierer Verfassungsausschusses auf die ihnen aus- 
drücklich zugewiesenen Angelegenheiten beschränkt ($$ 35, 36k). Vom Standpunkte der 
modernen Lehre von den Staatenverbirdungen wäre das Kaisertum Österreich als ein Länder- 
staat, alsein Komplex autonomer Provinzen zu charakterisieren, sofern der Monarch nicht bloss 
d:m Reichstag sondern auch den Landtagen als Kaiser ($ 37) und nicht, wie der Kremsierer 
Entwurt in Aussicht genommen hatte, als Landesoberhaupt gegenübertritt, die voll- 
ziehende Gewalt in ganzen Reiche und in allen Kronländern als eine, un- 
teilbar und ausschliessend dem Kaiser zustehende ($ 84) und jede, welcher Körperschaft 
immer übertragene vollzieherde Gewaltals widerrufliche, zur Disposition der Krone stehende 
erklärt wird ($$ 84, 85). Die Abneigung des Hofes und der militärischen Kreise gegen ein konsti- 
tutionelles Regiment, die Skepsis der Berater des Kaisers hinsichtlich der Durchführbarkeit der 
Reichsverfassung führten zu dem kaiserlichen Patent v. 31. Dezember 1851 (Silvesterpatent 
mittels dessen die Verfassung vom 4. März 1849 als unausführbar ausser Kraft 
gesetzt wurde. Ein Kabinetchreiben vom gleichen Tage stellte beratende Ausschüsse nach 
Art der russischen Adelsversammlungen an der Seite der Kreisbehörder und Statthaltereien 
in Aussicht. 
Erst im Jahre 1860 führte das Bedürfnis, das durch eine klerikale innere und durch eine 
unglückliche äussere Politik gesunkene politische Ansehen der Monarchie und den gesunkenen 
Staatskredit zu heben, zur Wiederaufnahme der Experimente für eine Repräsentativver- 
fassung durch den Kaiser. Sie beschränken sich zunächst darauf, einen in der Märzverfassung 
vorgesehenen Kronrat, den Reichsrat für den Zweck der Teilnahme an der Finanz- 
gesetzgebung durch Repräsentanten der Länder, die vom Kaiser auf Grund eines Terna- 
vorschlags der Länder ernannt werden sollen, zu verstärken. Sie schreiten von da aus’zur Umge- 
staltung des verstärkten und noch weiter zu verstärkenden Reichsrates in eine halb legis- 
lative, halb beratende für die Reich sangelegenheiten zuständige Reichsver- 
sammlung mittels des Diplomes vom 20. Oktober 1860 (Oktoberdiplom oder Golu- 
chowskiverfassung), um schon mittels des Patentes vom 26. Februar 1861 (Fe- 
bruar- oder Schmerlingverfassung) vorläufig mit der Einführung des Zwei- 
kammersystems durch Zerlegung des Reichsrates in ein auf ständischer Grundlage ruhendes 
Herrenhaus und ein aus der Wahl der Landtag e hervorgehendes Abgeordnetenhaus zu enden. 
Beide Verfassungsexperimente sehen, das Oktoberdiplom minder klar, das Februarpatent deutlich, 
eine Ausscheidung der Repräsentanten der nichtungarischen Länderals 
engeren Reichsrates aus dem weiterenodergemeinsamen Reichsrat vor, während die 
Frage nach der Gestaltung der Repräsentation der ungarischen Länder für die Nicht-Reichs- 
angelegenheiten offen bleibt. Oktoberdiplom wie Februarpatent enthalten für die Abgrenzung 
der Reichsangelegenheiten eine schillernde Formel nach Art der in den Verfassungskom- 
promissen zwischen König und Ständen über ungarische Verfassungsfragen üblichen. Sie bieten 
einen Katalog der Reichszuständigkeiten, der den Schein erschöpferder Aufzählung erregt, ausser- 
dem aber die dehnbare Formel der Zuständigkeit des Reiches für alle Gegenstände der Gesetzgebung, 
die allen Königreichen und Ländern (den sogenannten historisch -politischen
	        
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