J. Hatschek, Die parlamentarische Regierung. ‘417
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Während die Engländer noch bis in das Ende der 50er Jahre des 19. Jahrh. ihre eigene Ver-
fassung bloss unter dem Gesichtswinkel der Montesquieu, De Lolme, Blackstone betrachteten
und anbeteten, (als Beispiel hierfür mag die Schrift des Lord Brougham ‚The British Constitution“
London 1861 2. Ausgabe Kap. I und Kap. XVII gelten), war der Kontinent schon längst an der
Arbeit, eine neue Theorie über den Kern des englischen Verfassungsstaats auszubauen und zu ver-
breiten. Auf dem Kontinent entdeckte man nunmehr die sogenannte „parlamentarische Regierung“
Englands und pries sie als Vorbild zur Nachahmung.
Auch diesmal waren es die Franzosen, welche uns hierüber belehrten. Im Januar 1830 führte
Adolf Thiers in dem neu gegründeten Oppositionsblatt „Les National“ das englische Vorbild mit
dem charakteristischen Satz vor alle Augen: „Le roireägne, les ministres gouvernent, les chambres
jugent‘ und „les chambres offrent leur majorite comme liste des candidats.“ (zitiert
bei Jellinek Ausgewählten Schriften und Reden II S. 134.)
Aus dieser Anschauungsweise entwickelte sich alsbald eine geschlossene Theorie, die an Stelle
der bisherigen Dreit lt eine Viert teilung der St te. Nebender Gesetz-
gebung, der Exkutive und der richterlichen Gewalt müsse es in einem parlamentarisch regierten Staat
noch eine vierte Gewalt geben und diese müsse der König darstellen als „‚Pouvoir neutre‘, denn der
König hertsche aber er regiere nicht. Im parlamentarisch regierten Staat ruhe der Schwerpunkt
in den Kammern. Sie seien die bestimmenden Leiter der Verwaltung, sie hätten die Entlassung der
Minister zu entscheiden. Die vierte Gewalt, der König könne zwar durch Kammerauflösung seine
Minister zu halten versuchen: beweise aber das souveräne Volk durch Wiederwahl seiner früheren
Repräsentanten, dass es an seinem Willen festhalte, dann müsse sich der König (das sogen. pouvoir
neutre, oder pouvoir moderateur) damit zufrieden geben und die Minister auch wirklich entlassen.
Vor einem Misstrauensvotum der Kammern haben die Minister zu weichen. Diese Theorie auf
englisches Vorbild gestützt verkündet Benjamin Constant in seinem „Cours de politique constitu-
tionelle‘‘. Bruxelles 1836 I p. 428 ff. (die beste Analyse dieser Lehre bei Seydel „bayerisches Staats-
recht 2. Aufl. I. Bd. S. 510 £.). So wird die Entdeckung von Ad. Thiers, „dass die Kammern ihre
Majorität als eine Liste der Ministerkandidaten dem Könige zu präsentieren hätten“, näher ausge-
führt und zum Kernpunkt des parlamentarischen Regierungssystems wie es in England damals
bestanden haben sollte, gemacht. Seit dieser Zeit erblickte auch die konstitutionelle Staatstheorie
nicht bloss in Frankreich, sondern auch in Deutschland das Wesen der parlamentarischen Re-
gierung inder Notwendigkeit die Minister der jeweiligen Parlaments-
majorität zu entnehmen.
Wieder waren es die Engländer, welche diese neue Theorie des englischen Verfassungsgeheim-
nisses von den Franzosen bereitwillig übernahmen und ihrem Vaterland zu verbreiten suchten.
Im Vordergrund aller dieser Darstellungen steht das Buch von Bagehot, das etwa um 1867 verfasst
worden war.!) Man habe zu Unrecht bisher das Wesen der englischen Verfassung in der Gewalten-
teilung und der Balancentheorie gesucht. Gerade das Gegenteil davon sei wahr. Der Vorzug der
englischen Verfassung würde nicht in einer Gewaltentrennung sondern in einer intimen Verein-
heitlichung, j ja beinahe in einer kompletten Fusion der exekutiven und legislativen Gewalt bestehen
(Chapter I p. 10 ff. zit. nach der Ausgabe von 1872: „The efficient secret of English Constitution
may be described as the close union, the nearly complete fusion, of the executive and legislative
powers. No doubt by the traditional theory as it exists in all the books, the goodness of our con-
stitution consists in the entire separation of the legislative and executive authorities but in truth
its merit consists in their singular approzimation.‘ ‘)
Das Kabinett sei bloss ein Ausschuss des Parlamentsgleich den anderen
Parlamentsausschüssen, nur mit der besonderen Aufgabe betraut, die Gesamtverwaltung zu kon-
trollieren. Parlamentarische Regierung sei also Verwaltungskontrolle durch einen Parlaments-
1) Es ging aus Aufsätzen in der Fortnigutly review hervor. Zum Teil mag es auch vor der damaliegen
englischen Zeitströmung der ‚‚Amerikanisierung‘‘ der engl. Staateinstitutionen beeinflusst worden sein. $. mein
engl. Staatsrecht I a. a. O
Handhnch der Politik. TT. Auflage. Band II. 27