418 -J. Hatschek, Die parlamentarische Regierung.
ausschuss nämlich das vom Parlament gewählte Ministerkabinett, das so als board of control zu
fungieren habe. Auch diese Theorie entsprach damals schon lange nieht mehr den Tatsachen der
englischen Staatspraxis. Das Parlament übte damals schon längst nicht mehr blosse kontrollierende
Tätigkeit aus, sondern in immer steigender Weise richtige Verwaltungstätigkeit und diese nicht etwa
bloss durch das Ministerkabinett als board of control, sondern zum Teil durch parlamentarische
Komitees, zum Teil durch das Private Billverfahren. u. a. m.
Der kontinentalen Staatstheorie ist bis auf den heutigen Tag diese Bagehot’sche Auffassung
der parlamentarischen Regierung unanfechtbares Dogma geblieben, während man in England in der
Zwischenzeit doch die Theorie den neuen Verhältnissen anzupassen verstanden hat. Die Engländer
sehen heute das Wesen ihrer parlamentarischen Regierung in der Verwaltungstätigkeit des Parla-
ments durch parlamentarische Komitees an (Siehe z. B. G. Bradford in Harvard Law Review
III. p. 261).
Aber weder dieses noch die Bagehot’sche Lehre ist richtig.
Wahl der Minister aus der Majorität des Parlaments, Ausübung der Verwaltungstätigkeit
durch parlamentarische Komitees resp. durch das Parlament, all dies sind nur Ein zelerschei-
nungen einer einzigen bedeutsamen Tatsache, die von der bisherigen Staats-
theorie so gut wie gar nicht gewürdigt worden ist: Es ist nämlich die lex Parlia-
menti, die parlamentarische Praxis (nicht bloss die Geschäftsordnungspraxis,
sondern die auch in der Gesetzgebung und in der Budgetfeststellung betätigten Parlamentspraxis),
welche immer solange nämlich ein Parlament und eine Exekutive bestehen, Ver-
fassungsumbildungen schafft, olıne die für die Verfassungsänderungen notwendigen,
formal-rechtlich bestehenden Schranken zu berücksichtigen. —
Diese parlamentarische Praxis hat neben anderen Umständen in England und in Frankreich
die parlamentarische Regierung gezeitigt, sie ist eben daran auch Schweden zu einem parlamen-
tarisch regierten Staat zu machen. Dies soll gleich im folgenden gezeigt, hier aber schon festgestellt
werden:parlamentarische Regierungist Staatsherrschaftder Volks-
vertretungdurch Bestimmung der Richtlinien für die Verwaltung
und durch Umbildung der Verfassung — kraft der parlamen-
tarischen Praxis.
II.
Die lex Parliamenti und die parlamentarische Regierung.
In allen Staaten, welche eine echte parlamentarische Regierung besitzen, nicht bloss einen
Scheinparlamentarismus wie z. B. die Balkanstaaten und Spanien, ist die parlamentarische Re-
gierung ein Produkt der Parlamentspraxis neuerer Zeit. Dies zeigt zunächst die Entwicklung
Englands. Hier ist allerdings das Ministerkabinett ein Produkt sozialer Triebkräfte: der Partei-
bildung (Siehe meine englische Verfassungsgeschichte 1913 $ 33 und $ 45). Die Herausbildung der
parlamentarischen Exekutive aber ist allein auf dem Wege der parlamentarischen- Praxis ent-
standen, dadurch nämlich, dass durch ein Gesetz der Königin Anna von 1707 das Unterhaus die
Möglichkeit der Auswahl unter den vorhandenen Beamten vornehmen konnte, um die ihm genehmen
Kategorien derselben zum Unterhause wahlfähig zu machen und andere Kategorien davon aus-
zuschliessen. Das geschah auf doppelte Weise. Zunächst wurden durch sogenannte place acts bis
in die Mitte des 19. Jahrhunderts Aemter, die überflüssig und bedeutungslos erschienen, aus dem
Parlament entfernt. Aber noch wirksamer war die Inklusion von Beamten ins Unterhaus. Zu-
nächst war schon durch das Gesetz von 1707 ausdrücklich ausgesprochen, dass der Staatssekretär,
der Finanzminister u. a. m. im Unterhaus Platz nehmen könnten. Seit 1742 wurden die Unter-
staatssekretäre ins Unterhaus eingeführt (15 Geo. II Cap. 22 $ 3). Aber noch wichtiger als all diese
ausdrücklichen Gesetzesbestimmungen war die dem Unterhaus durch jene Akte von 1707 gegebene
Befugmis, durch einfache Resolution zu erklären, welches Amt es für ein altes, d. h. nach dem Gesetze
von 1707 zugelassenes, und welches es für ein neues Amt, also im Sinne des Gesetzes von 1707 vom
Unterhaus ausgeschlossenes betrachtet wissen wolle. Das Unterhaus entwickelte hierbei in seiner
Praxis eine grosse Willkür (siehe darüber mein englisches Staatsrecht I 553 £.)