494 J. Hatschek, Die parlamentarische Regierung.
die Frage, ob die Staatsausgabe rechtmässig gemacht, sondern greift weiter, ob sie auch
zweckmässig erfolgt sei. Bei der Ausübung des Interpellationsrechts beschränkt sich das
Parlament nicht bloss auf die Kontrolle der Verwaltung, sondern erteilt ihr direkt durch motivierte
Tagesordnungen u. a. m. Weisungen für die Zukunft.
Dem Parlament steht gewöhnlich ein Enquöterecht durch vom Parlamente eingesetzte
Kommissionen zu, welche das Recht erhalten, Zeugen auch unter Eid zu vernehmen (so in England,
Belgien, Ungarn, Italien, Niederlanden, Dänemark). Die Ministerverantwortlichkeit wird nicht
bloss in der scharfen Form der Ministeranklage, sondern in der einfacheren aber darum nicht minder
wirksamen Form der Misstrauensvoten geltend gemacht. Schliesslich wird die in allen Staaten
unentbehrliche Verwaltungsroutine der Behörden der Parlamentspraxis untergeordnet. (Siehe
mein allgem. Staatsrecht Bd. I S. 47.)
Während die parlamentarische Regierung in der Monarchie hauptsächlich den Zweck hat,
den Willen des Unterhauses in zweifelhaften Fragen gegenüber dem Königtume zum Durch-
bruch zu bringen, ist der ausgesprochene Zweck der parlamentarischen Regierung in der Demo-
kratie dem Willen des Volks inallenentscheidenden Staatsfragen zur Geltung
zu bringen. Die parlamentarische Demokratie, wie sie z. B. in Frankreich und in einigen südamerik.
Republiken t) (z. B. Chile) herrscht, unterscheidet sich sehr wesentlich einerseits von der unmittel-
baren, anderseits von der Gewalten trennenden Monarchie.
Die unmittelbare Demokratie ist diejenige, wo das Volk selbst, nicht durch Repräsentanten, die
wichtigsten Staatsfunktionen in Gesetzgebung und Verwaltung ausübt, wo insbesondere die gesetz-
geberischen Funktionen und manche Akte der Verwaltungstätigkeit durch das Referendum dem
Volksentscheid zugeführt werden. Diese Form der Demokratie wie sie in der Schweiz verwirklicht
ist, steht im Gegensatz zur Repräsentativdemokratie, welche entweder eine gewaltentrennende
ist, wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, oder eine parlamentarische. Die Hauptunter-
schiede dieser beiden Arten, der Repräsentativdemokratie gehen auf den Grundzug der Gewalten-
trennung zurück, nämlich die scharfe Sonderung der gesetzgebenden, exekutiven und richter-
lichen Gewalt.
In der gewaltent den Demokratie haben die Minister gewöhnlich nicht Zutritt zur Legis-
latur und nicht freies Wort in ihrer Mitte. Das Gegenteil ist in der parlamentarischen Demokratie
die Regel. Schliesslich hängen infolge der Gewaltentrennung die Minister in der Demokratie, in
welcher dieser Grundsatz durchgeführt ist, keineswegs, wie in der parlamentarischen Demokratie
von einer Vertrauens- oder Misstrauenskundgebung einer oder beider Kammern des Parlaments ab.
In der gewaltentrennenden Demokratie wacht die richterliche Gewalt über jede Ausschrei-
tung der anderen Gewalten, in der parlamentarischen Demokratie ist eine solche Vorrangstellung
der richterlichen Gewalt nicht gegeben. Der Träger der Volkssouveränität ist die Volkskammer
und sie kann sich jede Ausschreitung ungerügt gestatten, da ihr Wille im Sinne der parlamen-
tarischen Regierungsweise in allen Fragen (nicht bloss in zweifelhaften, wie in der parlamen-
tsrischen Monarchie) den Ausschlag geben muss. Zwar hat auch in der parlamentarischen Demo-
kratie der Chef der Exekutive ein Auflösungsrecht gegenüber der Volkskammer, aber dieses „droit
de dissolution‘“ hat keinen Korrektivzweck, sondern soll die Möglichkeit gewähren, die Volks-
kammer zu einem wirklichen Vertreter des Volks zu machen.
Die parlamentarische Regierung kann nach dem Vorhergehenden nur die Vorrangstellung
eines Organs, nämlich der Volkskammer bedeuten .*|Die parlamentarische Regierung kann auch
nur eine einheitliche sein, ein sogenannter dualistischer Parlamentarismus,') der noch
immer parlamentarische Regierung sein soll und aufgebaut ist auf der Gleichrangstellung von
Porlament und Königtum ist eine contradictio.in adjeeto. Denn der Begriff der Regierung
verlangt Einheitlichkeit. Ebenso der Begriff der parlamentarischen Regierung.
!1) Vergl. dazu &. Soubios u. E. Carette, Les röpubliques parlamentaires, Paris 1902.
'*) Einen solchen postuliert Fahlbeck, Sveriges författning och den moderna parlamentarismen 1904.