Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Ein- oder Zweikammersystem? 429 
  
Unter solchen Umständen nimmt das Problem des Zweikammersystems für die Anhänger wie 
fürdie Gegner eine eigentümliche Fassung an. Fürdie Anhänger ist die Fragebrennend: wiebekommen 
wir ein Oberhaus, das einen so starken Rückhalt am Volk hat, dass es dem Drängen des Kabinetts und 
der hinter ihm stehenden Unterhausmehrheit die nötige Hemmung entgegenwirken lassen kann ? Das 
ist die Meinung, die in Rosebery’s Rede zur zweiten Lesung der Lansdowne’schen Reformbill deut- 
lich erkennbar ist; und gewiss ist kein englischer Staatsmann wie er berufen, ein unparteiisches 
Urteil abzugeben, da er fast vierzig Jahre lang im oft sehr scharfen Kampf gegen die konservative 
Parteiherrschaft im Oberhaus gestanden hat, zuletzt noch bei den Beratungen über die Schank- 
lizenz-Vorlage und über das Budget von 1909 als ungehörter Warner aufgestanden ist und nun 
dennoch als Vorkämpfer des Zweikammersystems gegen die Vetobill der Regierung im Parlament 
und in den grossen Versammlungen von Manchester und Edinburg (30. Nov. u. 4. Dez. 10) sprechen 
musste. Und wenn der Übergang von der reinen Pairskammer zu einem ganz gewählten Oberhaus, 
ohne erbliche Mitglieder, wie ihn Rosebery annehmen würde, auf den ersten Blick sehr sprunghaft 
und radikal scheint, so ist dabei zu bedenken: dieses gewählte Oberhaus wäre in der Erfüllung der 
wahren Aufgaben einer zweiten Kammer stärker und sicherer gestellt als das House of Lords, nicht 
nur wegen des Rückhalts, den es im Volk hätte, sondern vor allem deshalb, weil es der Drohung 
des Pairsschubs nicht mehr ausgesetzt wäre. Und in der Tat ist es wohl nicht zu viel gesagt, wenn 
man jeder Lösung, die den Pairsschub beseitigt, den Vorzug gibt vor einer, die das nicht tut. 
Das Recht der „Krone‘‘ zum Pairsschub gehört der Geschichte an. Dass man sich heute auf 
Präzedenzfälle solcher Staatsstreichsversuche beruft, die vor der Reformbill und dem Verlust aller 
politischen Kronrechte an das Kabinett liegen, ist nur durch das Bestreben zum Heucheln einer 
nicht vorhandenen Kontinuität der Entwicklung im englischen Staatsleben erklärlich. In Wirk- 
lichkeit ist das, was man heute unter dem Pairsschub des englischen Staatsrechts zu verstehen hat 
und was befremdlicherweise von den englischen Staatsrechtlehrern überall als wohlbestehendes 
Staatsrecht anerkannt wird, das Recht des Premierministers und der Unterhausmehrheit, die hinter 
ihm steht, vom König die Verleihung der Pairswürde an eine beliebig hohe Zahl von Parteiange- 
hörigen und insbesondere auf die Annahme einer bestimmten Regierungsvorlage verpflichteten 
Personen zu verlangen, damit auf diese Art die Bill eine Mehrheit im Oberhaus erlangt. Eine Ab- 
surdität wie die, dass man zu gleicher Zeit dieses Regierungsrecht zur Ernennung beliebig vieler 
Oberhausmitglieder behauptet und dem Oberhaus ein „absolutes Veto‘ zuerkennt, ist nur in der 
englischen Verfassung denkbar. Eine zweite Kammer, die unter diesem Damoklesschwert des 
Pairsschubs steht, ist nicht unabhängig. Für ihre Mitglieder ist, sofern sie erblichen Rechts sind, 
die Furcht vor einer Herabwürdigung des Standes der stärkste Druck zur Nachgiebigkeit, der sich 
denken lässt. Das hat sich bei der schliesslichen Annahme der Vetobill im Oberhaus gezeigt. 
In jedem Fall muss der Anhänger des Zweikammersystems die klare und durch das Verfassungs- 
gesetz verbürgte Selbständigkeit der an Stelle des Oberhauses tretenden Kammer gegenüber 
dem Kabinett, also die Beseitigung jeder Möglichkeit eines Pairsschubs, in erster Linie 
fordern. 
Umgekehrt ist dem Kabinett mit einem scheinbaren Zweikammersystem am besten gedient, 
und so ging die Vetopolitik der jetzigen Regierung auf ein doppeltes: auf die Beseitigung des soge- 
nannten absoluten Vetos — womit zugleich das Oberhaus in seiner Existenz selbst auf den guten 
Willen des Kabinetts und der Unterhausmehrheit gestellt sein wird, da künftig auch die Zusammen- 
setzung des Oberhauses und die Grenzen des ihm verbliebenen Suspensivvetos durch einen drei- 
mal während zwei Sessionen wiederholten Beschluss der einfachen Unterhausmehrheit gegen den 
Willen des Oberhauses geändert werden, schliesslich auch die andere Kammer durch einen solchen 
Beschluss des Volkshauses abgeschafft werden kann, alles dieses streng verfassungsmässig! — ferner 
aber darauf, dass selbst dieses unschädlich gemachte Oberhaus noch der beständigen, im Notfall 
auch zum Pairsschub verstärkten Ernennung neuer Parteigänger des Kabinetts ausgesetzt, also 
zum Instrument der politischen Patronage erhalten wird, wodurch zugleich die Möglichkeit gegeben 
ist, einer kommenden Regierung der Gegenpartei ihre beiden ersten Regierungsjahre zu erschweren. 
Mit der Durchsetzung der Asquith’schen Parlamentsbill ist dieses Ziel erreicht, weshalb auch die 
entschiedenste Unterstützung für diesen Gesetzentwurf von den doktrinären Anhängern des Ein-
	        
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