430 Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Ein- oder Zweikammersystem ?
kammersystems gekommen ist. Eine vollkommenere Travestie der Aristokratie als das Oberhaus
unter dem doppelten Zwang der Vetobill und des Pairsschubs ist nicht denkbar.
Von der Praxis des parlamentarischen Regierungssystems in England bis zur Praxis der
konstitutionellen Monarchie in Deutschland oder Österreich führt ein weiter Weg an einer langen
Reihe von Formen der Staatsgewalt vorbei, auf deren Verhältnis zu unserem Problem hier nicht
eingegangen werden kann. In Deutschland ist nicht nur das Einkammersystem im Reich gegen-
über dem Zweikammersystem fast aller Bundesstaaten in Geltung, sondern es sind auch in den
einzelnen Staaten die Anteile der ersten Kammer an der Gesetzgebungsgewalt in sehr verschiedener
Weise geregelt und wenn man einmal konstatiert hat, dass nirgends eine Volkswahl zur ersten
Kammer stattfindet, so ist auch die Verschiedenheit in der Bildung der ersten Kammer auffallend.
Sie zeigt auf den ersten Blick, wie wenig man selbst bei der gleichen Regierungsform mit einem
bestimmten Wesen des Parlamentshauses operieren darf, das den doch wesentlich uniformen und
sich beständig einander angleichenden Volkskammern zur Seite steht.
Die natürliche Aufgabe der ersten Kammer liegt offenbar da, wo eine Volkskammermehr-
heit und eine vom Souverain berufene und von seinem Willen getragene Regierung einander gegen-
überstehen, in der Vermittlung von Gegensätzen und letzten Endes im Ausschlag, den der dritte
Faktor beim Konflikt der beiden ersten gibt. Deshalb genügt eine erste Kammer deren Mehrheit
in organischer Verbindung mit der Mehrheit der zweiten steht, ihrer Aufgabe ebensowenig wie ein
Herrenhaus, dem die Selbständigkeit gegenüber der Regierung fehlt. Die eine wie die andere Kon-
stellation vollständig und mechanisch auszuschliessen, ist unmöglich. Man kann nur Bürgschaften
dafür suchen, dass regelmässig weder die Mehrheitsparteien des Unterhauses noch die Regierung
die Mehrheit der ersten Kammer zu beeinflussen mögen, oder dass wenigstens dieser Einfluss,
wofern er sich nicht vermeiden lässt, von beiden Seiten ungefähr gleich stark zugelassen und durch
ein ebenso starkes Kontingent unabhängiger Mitglieder neutralisiert wird. Die Bürgschaften sind:
lebenslängliche oder langjährige Mitgliedschaft, die von der Auflösung des andern Hauses und dem
Ablauf seiner Periode nicht berührt wird; Wahl durch streng nicht-politische Körperschaften, die
hier zugleich einen Ersatz für die völlige Ausschaltung bei den allgemeinen Wahlen zur Volkskammer
bekommen; Offizialsitz für hohe Geistliche, Universitätsvertreter, Stadtoberhäupter, Richter. (In
diesem Zusammenhang mag erwähnt sein, dass in Monarchien die Teilnahme der Thronfolger an
den Arbeiten der ersten Kammern eine fast unschätzbare politische Schulung bedeutet, in der nicht
zum geringsten der Zwang zum ruhigen Anhören gegnerischer Ansichten zu veranschlagen ist.)
Keiner bestimmten Regierungsform angehörend, doch überall gleich bedenklich ist die Ernennung
von Ministern oder Parteiführern, die sich in der Volkskammer missliebig gemacht haben, zu Mit-
gliedern des andern Hauses. So bestechend der Gedanke eines Oberhauses ist, das aus dem,,Rat
der alten Staatsmänner‘‘ besteht, so schwierig ist seine Verwirklichung. Auch darauf hat Rosebery
in den jüngsten Beratungen über die Lansdowne-Bill hingewiesen, in scharfer Polemik gegen das
Qualifikationsprinzip, das von der Reformkommission des Oberhauses angenommen worden und
und nun auch im Lansdowne’schen Entwurf verwertet war. (Jene Kommission und ihr Bericht
gehen unter dem Namen Roseberys, auf dessen Anregung ihre Einsetzung zurückging und der den
Vorsitz führte; er hat aber wiederholt die Verantwortung für ihre Beschlüsse abgelehnt, da er in den
wichtigsten Fragen überstimmt worden war.)
Schliesslich ist eine der festesten Bürgschaften für die Unabhängigkeit der ersten Kammer
ausserhalb der Eigenschaften ihrer Mitglieder zu suchen: darin nämlich, dass ihre Bildung und ihr
Anteil an der Gesetzgebungsgewalt in der Verfassung festgesetzt und die Änderung der Verfassung
auf gesetzlichem Weg erschwert, ausser den Machtbereich einer vorübergehenden und geringen
Mehrheit der Volksvertretung und der Regierung gerückt ist. In mehreren deutschen Staaten hat
sich diese Art der Befestigung des Zweikammersystems letzthin überraschend bewährt: in einem
verhältnismässig kurzen Zeitraum, jedoch in jedem Fall durchaus selbständig und eigenartig,
haben sich Ansätze zu Verfassungskonflikten in drei Staaten gleichmässig so gelöst, dass die erste
Kammer den Wünschen der zweiten nach einer Änderung ihrer Zusammensetzung und nach einem
freieron Wahlrecht für die Volkskammer nachgab, zugleich aber auch die Verschiedenheit der Bud-
getbebandlung zu Gunsten der ersten Kammer ausgeglichen wurde. In Jellineks Betrachtung