Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Hermann Rehm, Wahlrecht. 433 
  
Um gegen die logische Folgerung nicht nur mit Nützlichkeitserwägungen ankämpfen zu 
müssen, wird die Behauptung aufgestellt, das Wählen sei nicht Volks-, sondern Amtstätigkeit. 
In Englund bedarf es der Konstruktion als Staatsfunktion nicht, um die Gefahren 
des allgemeinen Wahlrechtes abzuwenden. Hier wird das Wahlrecht wohl als Recht, aber 
immer noch als Privatrecht das an Grund und Boden haftet, als Realgerechtsame auf- 
efasst. Dass jedermann Eigentümer, Besitzer, Pächter, Mieter ist, also jeder ein Recht an 
Grund und Boden hat, erwartet niemand. 
UI. Zweck des Wahlrechts. Die Teilnahme an der Wahl ist ein Recht des 
Individuums. Hieraus folgt, dass die Teilnahme Interessen von einzelnen und von Gruppen 
(Ständen, Bezirken) solcher dienen darf. Und weil das durch die Wahl zu schaffende 
Organ das Volk, also alle Staatsangehörigen vorzustellen hat, folgt hieraus, dass möglichst 
allen vollgeschäftsfähig gewordenen die Befugnis einzuräumen wäre, ihre privaten Interessen 
(einschliesslich der ihrer Umwelt) durch Teilnahme an der Wahl zur Geltung zu bringen. 
Das Leben im Kulturstaate erfordert diese Befugnis um so mehr, als der Kulturstaat einen 
immer höheren Teil des Lebensinhalts des Individuums in Anspruch nimmt. Die Eigenschaft 
des Wählens als subjektives Recht führt somit zum Prinzipe des allgemeinen Wahlrechts. 
Allein das Wahlrecht ist kein Privat-, sondern ein öffentliches Recht des Individuums. Es 
wurde ihm verlichen, um das Staatsorgan zustande zu bringen, das zur Mitwirkung bei 
den bedeutendsten Staatsgeschäften und zur Kontrolle der ganzen Staatsverwaltung berufen 
ist. Dies ist der wichtigere Zweck, denn das zu schaffende Organ soll der Gesamtheit 
dienen. Also geht dieser Zweck des Wählens vor. In erster Linie muss daher das Wahl- 
recht so gestaltet werden, wie es das öffentliche Interesse fordert. Auch das Wahlrecht 
wird deshalb von dem Satze beherrscht, olıne den ein Staat überhaupt nicht möglich ist: 
zuerst die Ordnung, dann die Freiheit. Das Wahlrecht kann nur so geformt werden, wie 
es dem Interesse des Staates entspricht. Salus publica suprema lex esto, gilt auch für die 
Wahlrechtsordnung. 
Die Loppelaufgabe des Wahlrechts tritt in den positiven Wahlgesetzen deutlich hervor. 
Ausschliesslich oder vorwiegend dem Macht- oder Ordnungsinteresse dienen das beschränkte 
und das ungleiche Wahlrecht, der Ausschluss der juristischen Personen vom Wahlrecht und 
die sog. Wahlkautelen, die Wahlpflicht, der Verlust des Wahlrechtes wegen Unfähigkeit 
(Pflegschaft, Konkurs usw.) und Unwürdigkeit, Ruhen des Wahlrechts für Soldaten, Erlass 
des Wahlgesetzes als Verfassungsgesetz. Freiheitseinrichtungen im Wahlrecht bilden dagegen 
ganz allgemeines und gleiches Wahlrecht und Wahlrecht der juristischen Personen, Ausschluss 
der Wählbarkeit von Beamten, Ausschluss des Wahlzwanges, Ordnung des Wahlrechts durch 
einfaches Gesetz. 
IV. Die Verschiedenheit des Wahlrechts. Jedes Wahlrecht und demgemäss 
auch jede Wahlreform besteht aus einem Ausgleiche zwischen den Folgerungen des Individual- 
und des Sozialprinzips. Freiheits- und Ordnungsbedürfnis sind aber nach Ort und Zeit 
verschieden; ein anderes im Gross- und im Klein-, im sozial homo;srenen und im gemischten, 
im Agrar- und im Industrie-, im evangelischen und katholischen Staate usw. Ein anderes 
Bedürfnis besteht ferner in einer Zeit, wo Kampf unı ideelle Güter (geistige, religiöse, 
nationale: Press-, Gewissensfreiheit, Öffentlichkeit, Mündlichkeit, Konstitution) und in einer 
Zeit, wo Kampf um wirtschaftliche Interessen im Vordergrunde steht. Daher ist das 
Wahlrecht nach Raum und Zeit verschieden. Es gibt kein absolut bestes und kein starres 
Wahlrechtssystem. Das Wahlrecht muss sich an Ort und Zeit anpassen und daher auch 
organisch fortentwickeln. Aus der Verschiedenheit an Ort und Zeit ergibt sich z. B., dass 
es realpolitisch etwas anderes ist, ein bestimmtes Wahlsystem einzuführen und ein anderes, es 
abzuschaffen. Es bereitet mehr Schwierigkeiten ein unzweckmässiges Wahlsystem zu beseitigen, 
als seine Einführung zu verhindern. Daraus, dass das Wahlrecht der Wirkung nach teils dem 
Individual-, teils dem Sozial- d. h. Gesamtinteresse dient, darf nicht abgeleitet werden, dass 
auch bei der Herstellung des Wahlrechts in erster Linie diese Gesichtspunkt massgebend 
Handbuch der Politik. II. Auflage. Band I. 28,
	        
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