434 Hermann Rehm, Wahlrecht.
sind. Namentlich seit die Parteien an der Gestaltung des Wahlrechts mitarbeiten, wird
nicht sowohl gefragt: was fordert das Freiheits-, was das Ordnungsinteresse? als vielmehr,
was fordert das Machtinteresse der Beteiligten? Die nicht im Besitze der Macht Befindlichen
(Parlament, Minderheitsparteien) vertreten wohl das Freiheitsprinzip, aber nicht um seiner
selbst willen, sondern um dadurch (d. i. durch Ausdehnung des Wahlrechts) zu Macht zu
gelangen. Das andere Prinzip verteidigen die in der Macht Sitzenden (die Regierung,
ie Mehrheitsparteien), um sich in der Macht zu erhalten. Befinden sich Linksliberale im
Genusse der Macht. dann erklären sie sich zezen, befinden sich Konservative in der Minderheit,
so erklären siesich für Erweiterung des Wahlrechts. Ein Wahlrecht kann aus ganz anderem
Grunde eingeführt sein, als dem, der seiner Natur entspricht, aber trotzdem die seiner Natur
entsprechende Wirkung haben. Jedermann weiss, dass das allgemeine und gleiche Wahlrecht
für den deutschen Reichstag eingeführt wurde, um durch Beteiligung aller Volksklassen
an den Wahlen den nationalen Geist zu stärken und so die Einheit Deutschlands gegen
innere und äussere Feinde zu sichern. Aber das Wahlrecht hat zu Gunsten des Indivi-
dualismus, des Parteiegoismus gewirkt.
V. Das theoretisch beste Wahlrecht. Wenn es auch kein absolut bestes
Wahlrecht gibt, so lässt sich doch aus der Erfahrung heraus bestimmen, welches Wahlrecht
im allgemeinen d. h. von don besonderen Bedürfnissen des Ortes und der Zeit abgesehen
für den Kulturstast das zweckmässigste, das Kulturwahlrecht ist. Das beste ist eine Ver-
bindung von allgemeinem Wahlrecht mit Mehrstimmrecht und Wahlzwang. Das allgemeine
Wahlrecht wird vom Individualprinzip gefordert. Alle Individuen, alle Parteien und
Bestrebungen sollen die rechtliche Möglichkeit haben, am Wahlkampfe teilzunehmen. Mehr-
stimmrecht für Bildung und Vermögen in einer Stärke, dass die mehrstimmigen Gruppen
über die einstimmigen das Uebergewicht erhalten, also ungleiches Wahlrecht verlangt das
Gesamtinteresse. Die Erfahrung zeigt, dass gleiches Wahlrecht die Parteien zwingt, die
Massen zu gewinnen und sich zu erhalten. Das bewirkt, dass populäre, aber staatsschädliche
Massnahmen ergriffen und unpopuläre, aber staatsnotwendige Massnahmen unterlassen werden.
Schädlich z. B. ist Sozialpolitik auf Kosten gesunder Finanzpolitik. Das Parlament muss so
gestaltet sein, dass nicht das populäre, sondern das dem Vaterlande nützliche beschlossen
wird. Dazu gehört abgestuftes Wahlrecht. Dadurch ist nicht ausgeschlossen, dass eine
Kammer nach gleichem Wahlrecht gewählt wird, wenn dann nur noch eine zweite mit gana
gleichen Rechten vorhanden ist, die ebenfalls aus Wahlen und zwar aus ungleichen hervorgeht.
Die Menschen siud für den Staat nicht gleich viel wert, daher ist ungleiches Wahlrecht auch
gerecht. Selbst die Sozialdemokratie kennt ungleiches Stimmrecht; auf ihren Delegierten-
tagen wird nach der Beitragshöhe abgestimmt, Das Gesamtinteresse heischt endlich tunlichst
allgemeine Teilnahme der Wählerschaft als Gegengewicht gegen den terroristischen Einfluss
mancher Parteien auf die Bevölkerung. Das Wahlergebnis darf nicht von zufälligen, durch
Parteidruck herbeigeführten Mehrheiten abhängig sein.
Nur wer das Wahlrecht led:zlich vom Individualinteresse aus betrachtet, kann die
Behauptung aufstellen: gleicher Wehr-, Steuer- und Schulpflicht entspricht auch gleiches
Wahlrecht. Das Gesamtinteresse verlangt gleiche Wehr-, Steuer-, und Schulpflicht, aber
verbietet gleiches Wahlrecht. Massenheere z. B. sind dem Staate nützlich, Massenwähler
dagegen nicht. Dem Individualinteresse entspricht Wahlfreiheit, dem Gesamtinteresse aber
Wahlpflicht.?)
VI. Frauenstimmrecht. Wer das Wahlrecht nur vom Standpunkte des Individual-
interesses aus ansieht, muss den Frauen und zwar allen, nicht nur den erwerbstätigen oder
verbeirateten, Stimmrecht und zwar gleiches wie den Männern gewähren, gerade so wie
dann ein Wahlrecht der juristischen Personen anzuerkennen ist. Bei Beachtung des Gesamt-
*) Hauptgegner des Stimmzwanges in Deutschland Triepel, Zeitschr. f. Politik 4, 597. Lit.ı Spira,
Die Wahlpflioht 1009.