Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Karl Lamprecht, Staatsform und Politik im Lichte der Geschichte. 31 
  
Jahrhunderts vorliegen, gaben nun dem mittelalterlichen Katholizismus der unteren Schichten 
allmählich jene besondere leidenschaftliche Färbung, welche für den Glauben der breiten Masse des 
katholischen Volkes in der Gegenwart charakteristisch ist. Indes diese Entfaltung erklärt nur eine 
Seite des modernen Klerikalismus. Daneben steht eine andere, aus deren Entwicklung her die kleri- 
kalen Massen ihre Führer erhielten. Wir haben schon oben gesehen, wie der historische Sinn ein 
für die subjektive Persönlichkeit der modernen Zeit charakteristisches Merkmal ist, und wie gerade 
von dieser Seite her den freiheitlichen Bestrebungen dieser Persönlichkeit ein unter Umständen mehr 
bindendes Motiv entgegentrat. Die erste höchst markante Erscheinung, in der diese Kombination 
von Bedeutung wurde, knüpfte sich nun an die Romantik. Die Frühromantik begann mit einem 
Streben nach fast willkürlicher Freiheit, und sie endete für eine nicht geringe Anzahl gerade von 
hervorragenden Vertretern mit dem Übertritte zum Katholizismus. Die Personen, die auf diese 
Weise in den Katholizismus hineingerieten und die gebildeten Angehörigen des Katholizismus, die 
sich auf diese Weise entwickelten, ergaben nun schon für das zweite und dritte Jahrzehnt des 19. 
Jahrhunderts eine kleine Gruppe von Führern, die, wenn sie in Kindern und Kindeskindern an die 
Spitze der grossen klerikalen Massen traten, eine politische Handlung von ungewöhnlicher Bedeutung 
vollzogen. Die hier angedeutete Kombination trat nun bekanntlich zuerst in den zwanziger Jahren 
in Frankreich auf. In Deutschland kann man vielleicht die Ausstellung des heiligen Rockes zu Trier 
im Jahre 1844 als das entscheidende Datum betrachten, an dem sich die Nation der Existenz des 
Klerikalismus bewusst wurde. 
Nach alledem traten also aus der ersten Periode der Entwicklung der subjektiven Persön- 
lichkeit mit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts immer deutlicher markiert drei grosse Par- 
teien hervor: die konservative, die liberale und die klerikale. Und alle diese Parteien trugen den 
Charakter noch dieser ersten Periode: sie waren nach grossen allgemeinen Idealen orientiert, hatten 
ursprünglich verhältnismässig wenig Beziehungen zu Wirtschaft und Gesellschaft und können des- 
halb als ideologisch bezeichnet werden. 
Ganz anders ist nun die Entwicklung in der zweiten Periode des modernen Subjektivismus 
abgelaufen. Was hier geschehen ist und noch geschieht, kann an dieser Stelle mit wenig Strichen 
angedeutet werden. Alle Welt weiss, in welcher ausserordentlichen Weise sich seit etwa Mitte des 
19. Jahrhunderts unser Wirtschaftsleben und dementsprechend auch unsere soziale Schichtung 
umgewandelt hat. Es handelt sich hier um eine ungeheure Reihe von Vorgängen, an deren Spitze 
man vielleicht ein Ereignis auch aus dem Jahre 1844 stellen kann. Damals wurde in Berlin die erste 
Industrieausstellung abgehalten und zu gleicher Zeit der Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen 
gegründet. Im übrigen ist bekannt, dass bereits die Einheitsbewegungen der vierziger Jahre, wenn 
auch zunächst noch ideologisch, doch schon Unterströmungen verkehrspolitischen und kommer- 
ziellen Charakters hatten. Und für die fünfziger und sechziger Jahre wurde es dann von besonderer 
Bedeutung, wie aus dem Wirtschaftsleben der modernen Unternehmung eine ganze Standesbildung 
der Unternehmung hervorzuwachsen begann, am frühesten, besonders deutlich ausgesprochen, der 
Stand der Arbeitnehmer, die heutige vierte Klasse, dann aber auch, etwas später, der Stand der 
Arbeitgeber. Sehr bald aber trat dazu eine andere Erscheinung, die sich auf dem Gebiete der Sozial- 
geschichte immer wiederholt. Die neuen Klassen, ganz modern organisiert, färbten, eben 
weil sie Träger des fortschrittlich Neuen waren, auf die vorhandenen Klassen ab, ja noch mehr, zer- 
sprengten und zersplitterten sie in der Fortentwicklung des modernen Wirtschaftslebens oder bil- 
deten sie wenigstens vollkommen um. Am wenigsten hat vielleicht unter dieser so revolutionären Er- 
scheinung das Bauerntum gelitten. Von alters her am Boden haftend, hat es diesem die Kraft ent- 
nommen, zu bleiben wie es war. Am meisten aber musste von den neuen Vorgängen, die sich ja zu- 
nächst auf dem Gebiete der Geldwirtschaft vollzogen, natürlich das Bürgertum erschüttert werden. 
Insbesondere hat die sogenannte Bourgeoisie und in ihr wieder das Handwerk zum grossen Teil 
die Grundlage seiner früheren Existenz verloren. Ganz besonders eigenartig wirkte aber die allge- 
meine Umwälzung auf den grossen Grundbesitz. Es ist eine bekannte Tatsache der deutschen Wirt- 
schaftsgeschichte, dass dieser sich schon im 18. Jahrhundert teilweise zur Unternehmung ausge- 
staltet hatte. Brachte den Grossgrundbesitzern nun das 19. Jahrhundert die Agrikulturchemie und 
den landwirtschaftlichen Nebenerwerb und damit die steigende Möglichkeit kapitalistischen Be-
	        
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