440 Hermann Rehm, Wahlverfahren.
erste Mal überhaupt Stimmen oder wenigstens unter denen, die das erste Mal ein gewisses
Stimmenminimum (in Baden 15 % der abgegebenen Stimmen) erhielten, gewählt werden.
Beiderromanischen Wahl sind die Wähler beim zweiten Wahlgange völlig frei. Er
stellt eine neue Wahl dar. Romanische Wahl gilt in Württemberg fü- die Wahlen der Oberamts-
bezirke und Städte, Stuttgart ausgenommen, in Elsass-Lothringen für alle Wahlkreise.
Englisch-amerikanisches System ist: relative Mehrheit bereits im ersten Wahl-
gange. Bayern nahm das System 1906 an in Verbindung mit romanischer Wahl in der Nachwahl;
doch fordsrt Bayern im ersten Wahlgange für die relative M.hrheit ein höheres Stimmenminimum
(ein Drittel der Stimmen). Immerhin können dabei 3001 geschlossene Wähler über 6000 gespaltene
siegen.
s IV. Abstimmungssysteme der Verhältniswahl. Die eine Hauptfrage
des Proporz-Prinzips ist: wie wird erreicht, dass die Minderheiten eine hohe Stimmenzahl erlangen ?
Die einen Systeme woll:n die Bildung grosser Minderheiten fördern, die anderen die Freiheit des
Wähl»rs möglichst schützen.
Möglichst hohe Stimmenzahl wird gewonnen, wenn die Wähler an die Parteilisten streng
gebunden, also freie Listen, Streichen, Panachieren verboten sind. Die Freiheit des Wählers ist
geschützt, wenn das Gegenteil der Fall ist.
A) Proportionale Einzel- und proportionale Listenwahl. Zum
Wesen der Verhältniswahl gehört der mehrmännige Wahlkreis; denn auch die Minderheiten sollen
Mandate erhalten. Listenwahl im Sinne der Wahl durch mehrmännige Wahlkreise ist dabei also
immer gegeben. Die Proportionalwahl kann nun aber weiter ohne amtlich eingereichte Parteivor-
schläge oder mit solchen geschehen. Im ersten Falle spricht man von proportionaler Einzelwahl,
im anderen Falle von proportionaler Listenwahl (Verhältniswahl mit Listenkonkurrenz). Listenwahl
heisst hier nicht Wahl in Wahlkreisen für mehr als 1 Mandat, sondern Wahl mit Kandidatenlisten
der Parteien. Einzelwahl dient der Freiheit der Wähler, aber führt zu grosser Stimmenzersplitterung.
Sie gilt nur für die erste Kammer in Dänemark.
B) Einnamige und mehrnamige Listenwahl, je nachdem der Wähler
aus den Parteilisten nur für ein oder für mehrere Mandate des Wahlkreises (alle oder die Hälfte usw.)
wählen darf. Riesen-Wahlkreise sind nur möglich bei einnamiger Stimmgebung. Sonst dauert
das Stimmenzählen zu lange.
C) Gebundene und freie Listen. Der Wähler ist an die Parteilisten gebunden
und zwar entweder streng oder loser. Hier darf er dann die Reihenfolge ändern, um ihm genehme
Parteigenossen weiter vorzubringen, und (ihm nicht genehme Namen) streichen. Auch das Frei-
listensystem hat Grade: entweder darf der Wähler nur aus Parteilisten wählen, aber seine Liste
aus Listen verschi dener Parteien zusammensetzen, die Listen sprenkeln, panachieren (ge-
mischte Listen), oder er darf seine Liste ganz nach eigenem Ermessen bilden (wild: Listen). Pana-
chieren ist eine Konzession an die Wählerfreiheit, died:m Wesen des Proporzes wid rspricht. Denn
irdem durch das Sprenkeln auch Nichtparteianhänger auf die Liste kommen, wird nicht nach der
wirklichen Stimmstärke verteilt.
D) Kumulieren. D:m Wähler wird erlaubt, alle oder einen Teil seiner mehreren
Stimmen auf einen oder einige Kandidaten zu häufen. Minderheiten solldadurch ermöglicht werden,
wenigstens zu einem Mandate zu gelangen. Daher wird das Häufen gewöhnlich schon auf den
Parteilisten vorgeschlagen. Man verringert dadurch die Gefahr, dass von Andersgesinnten das Recht
des Streichens und Panachierens zu einer Verhinderung der Wahl derjenigen Kandidaten ange-
werdet wird, welche die Partei in erster Reihe gewählt wü ıscht (Führer) und daher an den Kopf
der Parteiliste stellt. Ein Verhindern der Wahl dr Führer durch Streichen und Sprenk:In heisst
die Liste köpfen, dkapitieren. Parteigenossen können dies tun, aber auch gegnerische Parteien,
die bedeuter.d stärker sir.d. Sie sprenkeln ihre Liste mit minder bedeutenden Kandidaten der Gegen-
partei. Dann wü:den diese und nicht die Führer Mandate erhalten.
E) Listenkoppelung (Listenverschwägerung, apparentement des listes). Ver-
bundene Wahlvorschläge (verbundene, Kompromiss-, gekoppelte Listen) sind die Form des Wahl-