Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

32 Karl Lamprecht, Staatsform und Politik im Lichte der Geschichte. 
  
triebes, so verstand es sich eigentlich von selbst, dass sie sich mehr oder weniger zu Unternehmern 
umbildeten, und dass mithin neben die industriellen und kommerziellen Unternehmer eine der Haupt- 
sache nach dem Junkertum entnommene Schicht der agrarischen Unternehmer trat. Überblickt 
man nun die sozialen Wandlungen, von denen soeben die Rede war, so wird man kaum im Zweifel 
sein, dass sie, wenn dıe Parteibildung als solche der eigentlich bezeichnende politische Vorgang des 
subjektiven Zeitalters ist, zu Parteibildungen führen mussten. In der Tat ist dies die Signatur 
der Zeit seit etwa 1860 und 70. Die früheste und glänzendste auf dieser Basis gewachsene Partei- 
bildung ist die der Sozialdemokratie. Dagegen haben es die führenden Stände der Unternehmung, 
also die industriellen, kommerziellen bezw. agrarischen Unternehmer, lange Zeit zu eigener Partei- 
bildung nicht gebracht, weil sie ihrer Natur nach die einen zur liberalen, die anderen zur konserva- 
tiven Partei neigten und sich mithin als durch diese alten ideologischen Parteien mitvertreten er- 
achten konnten. Allein dieser Zustand hat sich in den letzten zwanzig Jahren geändert. Zunächst 
hat sich das agrarische Unternehmertum in dem Bunde der Landwirte, dann das industrielle und 
kommerzielle in dem Hansabund eine Partei geschaffen, und mehr als Reflexbewegung zum Bunde 
der Landwirte ist dann auch für die Bauern ein entsprechender Bund ins Leben getreten. Damit. 
sind denn tatsächlich alle sozialen Strömungen, die aus dem modernen Wirtschaftsleben hervor- 
gegangen sind, politisch zu \orte gelangt, und die auf dieser Basis entstandenen Bildungen durch- 
brechen heute den Organismus der älteren ideologischen Parteien so störend, dass sich ein wirkliches 
Chaos durcheinanderlaufender Bestrebungen ergeben hat. 
Allein, sinddamitdie Aussichtenund Sorgen der Gegenwart erledigt? Keineswegs! Soweit man 
zu sehen vermag, sind es zwei Richtungen, welche in Zukunft massgebend in die Entwicklung der 
heutigen chaotischen Zustände eingreifen können. 
Einmal breitetssich, allerdings zunächst nicht so sehr in Deutschland als in den fortgeschrit- 
teneren Ländern des modernen Demokratismus eine Bewegung aus, welche, ganz konsequent aus 
den Prinzipien des Subjektivismus hervorgehend, sich gegen Sekte und Partei als noch nicht den 
letzten konstitutionellen Ausdruck der modernen Zeit wendet. Mag man schon früher, zuerst wohl 
unter Napoleon I., im Plebiszit die Form gefunden haben, jede einzelne Person unmittelbar in den 
höchsten Fragen des Staatslebens zur Entscheidung heranzuziehen, so sind neuerdings in den Formen 
der Initiative und des Referendums Motive gefunden worden, durch deren Anwendung diese Heran- 
ziehung der einzelnen Personen tatsächlich stetig erfolgen kann. Partei und in gewissem Sinne auch 
Sekte als die untersten und elementarsten Formen persönlicher Einwirkung erscheinen dadurch 
wenigstens teilweise erledigt, und es liesse sich denken, dass sie von dieser Entwicklung her all- 
mählich zwar vielleicht nicht ganz beseitigt, sicherlich aber in ihrer Bedeutung beträchtlich ge- 
schwächt würden. Sollte dieser Verlauf eintreten, so würde er sich gewiss auch in Deutschland, wenn 
auch vielleicht erst in späterer Zeit, nicht vermeiden lassen, 
Neben dieser entfernteren Möglichkeit aber gibt es eine zweite, die sozusagen unmittelbar 
vor der Tür steht. Aus den wirtschaftlichen und sozialen Bestrebungen der letzten Jahrzehnte des 
19. Jahrhunderts hat sich, seit etwa 1890 bis zur Gegenwart immer stärker anschwellend, auf den 
neuen Naturalismus gestützt, bekanntlich ein jetzt fast schon auf allen Gebieten des Lebens wirk- 
samer moderner Idealismus erhoben. Dieser Idealismus dringt nun auch in das Gebiet der Politik 
mit konkreteren Forderungen vor. Es ist möglich, dass er, wie er jetzt schon auf dem Gebiete der 
Erziehungskunst um sich greift und dort ausgeprägte Programme entwickelt, so auch auf politischem 
(iebiete zu vielleicht mehrfacher, unter Umständen in sich gegensätzlicher Ausgestaltung von Pro- 
grammen führen wird, dass dann auf Grund dieser Programme und der ihnen zugrundeliegenden Strö- 
mungen neue, wieder mehr idleologisch orientierte Parteien entstehen, und dass diese neuen Partei- 
bildungen in dieser oder jener Form den Sieg über die älteren Bildungen davontragen werden. 
Wie nun auch diese Entwicklungen in Zukunft verlaufen mögen, soviel wird aus der bisher 
gegebenen Darstellung ersichtlich sein, dass auch in der neuesten Periode deutscher wie auch euro- 
päischer staatlicher Iöntwicklung überhaupt die grossen politischen Tendenzen nurals Exponenten der 
unter ihnen verlaufenden kulturgeschichtlichen Entwicklung erscheinen, mag diese nun zunächst an 
ihrer Oberfläche mehr ats wırtschafts- und sozialgeschichtlich oder mehr als geistesgeschichtlich 
gefärbt erscheinen. Und auch dem Ergebnis wird sich niemand, der die Dinge tiefer verfolgt, ent-
	        
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