Hans v. Frisch, Die Aufgaben des Staates in göschichtlicher Entwickelung. 51
Glückseligkeit erreichen kann und am Ende aller Tage in die Hölle fahren wird. Davor kann der
irdische Staat nur bewahrt werden, wenn er sich in den Dienst der Kirche, der civitas coelestis stellt
und dieser dient. So gibt es zwei Sorten von Staaten, charakterisiert durch ihre Ziele.) Der
Staat, der nicht zu einem latrocinium, zu einem Raubnest werden will, muss sich auf die Kirche
stützen und nach ihren Vorschriften sein Handeln bestimmen; dann, sagt er, sind die christlichen
Kaiser glücklich zu nennen, „si suam potestatem ad Dei cultum maxime dilatandum majestati
eius famulam faciunt; si ‚Deum timent, diligunt, colunt; si plus amant illud regnum, ubi non timent
habere consortes ....
Der bedeutendste mittelalterliche Schriftsteller auf diesem Gebiet, Thomasvon Aquino,
weicht mit seiner Auffassung des Staates in einzelnen wesentlichen Punkten von der älteren
Doktrin ab. Er erklärt den irdischen Staat nicht, wie Augustinus, fürein Erzeugnis der Sünde,
sondern sieht in ihm ein mit Naturnotwendigkeit entstandenes Gebilde,”) veranlasst durch die
humana indigentia, die gegenseitige Bedürftigkeit der Menschen; darin ist Thomas mit Ari-
stoteles einig. Es ist die irdische Bestimmung des Menschen, gesellig zu leben, Gott hat ihn
so geschaffen, er kann nicht anders.!) Und selbst im Stande der Unschuld, wenn ihn die Menschen
sich bewahrt hätten, wäre das dominium politicum, das staatliche Regiment entstanden.
Wie diese psychologische Rechtfertigung des Staates bei Thomas von Aquin offenbar auf
Aristoteles beruht, so auch seine Lehre vom Zweck des konkreten Staates. Sein Zweck soll
sein, die Menschen zur Glückseligkeit zu führen, die nur erreicht werden kann durch Betätigung
der Tugend. In einem wichtigen Punkte aber weicht der Aquinate vom Stagiriten ab und erinnert
an Plato, indemer, im Banne der christlichen Theologie stehend, den Staat als Mittel für die
transzendente Bestimmung des Menschen ansieht. Er verlegt also den letzten Zweck des Staates
ins Jenseits, analog dem überirdischen Endziel des Individuums, das gleichfalls im Jenseits liegt
und in der Anschauung Gottes besteht.) Damit wird dem Staat eine religiöse Aufgabe gestellt,
er wird ebenso wie der Platonische Staat zur Kirche. Im Gegensatz zu letzterem aber verliert er
seine Selbständigkeit, denn nicht mehr er selbst soll sich seine Sittengesetze geben können, sondern
die christliche Kirche diktiert sie ihm. In dieser Thomistischen Forderung spiegelt sich die ganze
Herrschsucht der mächtig gewordenen katholischen Kirche wieder.) Nach Gregor VII. ist das
Herrschen der weltlichen Fürsten ein todeswürdiges Verbrechen.
Dass dieser Staatszweck absolut sei, für alle Staaten und alle Zeiten derselbe, entspricht
dem theologischen Charakter dieser Staatslehre und dem katholischen Staatsideale, dem Welt-
staat unter päpstlicher Herrschaft. Es soll ein Universalstaat im extremsten Sinne des Wortes sein,
denn er umfasst nicht nur das Diesseits, sondern auch das Jenseits und beherrscht nicht nur die
gegenwärtig lebenden, sondern auch die gewesenen und alle zukünftigen Menschen.?!) Somit geht
die Thomistische Konstruktion noch weit über die katholische Auffassung der Zwei-Schwerter-
Theorie, die sie übrigens gänzlich ignoriert, hinaus. Dass die diesem Idealgebilde zugesprochenen
Aufgaben mit den Aufgaben eines irdischen Staates so wenig zu tun haben wie dieses Gebilde selbst
mit dem Staat, ist klar, und die Geschichte hat gezeigt, wie wenig Erfolg alle Versuche auf prak-
2) De civitate Dei. XV. c. 2.
16) De oiv. Dei. V. c. 24. — Vergl. über die verschiedenen Auffassungen der beiden Stasten des Augus-
tinus neuestens Scholz, Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte. (Leipzig, 1911) S. 70, 83 ff.
Summa theologiae I.I qu. %,art.4: „..... homo naturaliter est animal sociale.‘
1%) De regimine principum ad regem Cypri L1: „Naturale autem est homini, ut eit
animal sociale et politicum, in multitudine vivens, magis etiam quam omnia alia animalis: quod quidem natu-
ralis necessitas declarat. Aliis enim animalibus natura praeparavit cibum, tegumenta pilorum, defensionem: ut
dentes, cornua, ungues vel saltem velocitatem ad furam. Homo autem institutus est nullo horum sibi a natura
Praepareto, sed loco omnium ei data est ratio...... Est igitur homini naturale, quod in societate multorum vivat.“
19) De reg. prince. I. 14. — Vergl. Vilmain, Die Staatslehre des Thomas von Aquino im Lichte mo-
derner politisch-juristischer Staatsauffassung. (Leipzig 1910) S. 4f. Froschammer, Die Philosopbie
des Thomas von Aquino. S. 484 ff. J.J. Baumann, Die Staatsichre des h. Thomas von Aquino.
®) Vergl. Friedberg, Die Grenzen zwischen Staat und Kirche I. S. 35 ff.
2) Vilmain, a. a. O, 8. 141. — Über ähnliche Ausführungen an anderen Stellen bei Thomas vergl.
Baumann,a.a. 0, S. 107 ff.