Hans v. Frisch, Die Aufgaben des Staates in geschichtlicher Entwickelung. 57
3. Die Rechtstheorie.
Die Rechtstheorie kann man, wie bereits einmal kurz erwähnt, als Reaktion auf
die die Staatsgewalt schrankenlos erweiternde \Vohlfahrtstheorie ansehen; sie ist ein
Protest gegen die Allgewalt des Stastes und will dem Staatszweck enge und scharfe
Grenzen ziehen. Zur Zeit des absoluten Regimes war die Teilnahme am politischen
Leben im Staate auf eine verschwindend kleine Zahl von Individuen beschränkt, für
welche es gegenüber dem Untertanen so gut wie keine Rechtsschranken gab; die grosse Masse der
Bevölkerung war also der Willkür der Herrschenden schlechthin preisgegeben. Dies musste umso
drückender empfunden werden, als unter dem Einfluss der Wohlfahrtstheorie die allumfassende
Tätigkeit des Staates eine weitgehende Bevormundung des Volkes einführte und die persönlichen
Angelegenheiten der Individuen in den Bereich staatlicher Fürsorge zog. So war das Postulat der
Rechtstheorie, das staatliche Handeln in feste Grenzen zu bannen, durchaus berechtigt und man
erwartete von seiner Erfüllung die Überwindung der bedrückenden Polizeigewalt. Die neue
Formulierung der Rechtstheorie, die sich allerdings i in ihren Anfängen bis ins "Altertum zurück-
verfolgen lässt, hat also in bewusstem Gegensatz zur Wohlfahrtstheorie stattgefunden. Dies zeigt
sich schon darin, dass alle Vertreter derselben die Wohlfahrtstheorie bekämpfen, sie als völlig un-
geeignet darstellen und durch die Rechtstheorie abgelöst sehen wollen.
Die Theorie sagt, Zweck des Staates sei es, das Recht zu verwirklichen, der Staat solle
Rechtsstaatsein und sich um die Glückseligkeit des Einzelnen in keiner Weise kümmern.
Dass die Verwirklichung des Rechts eine der Staatsaufgaben sei, ist wiederholt auch von
anderen Theorien anerkannt worden, aber sie wurde nie besonders hervorgehoben. Cicero nennt
sie neben der salus populi und wenn die Naturrechtslehrer schon im 17. Jahrhundert die Sicherheit
als Entstehungsursache und Zweck des Staates angeben, so war damit auch die Rechtssicherheit,
der Rechtsschutz gemeint. So hebt, wie erwähnt, Locke den Schutz der Privatrechtssphäre
besonders hervor.
Als bedeutendster Vertreter der neu formulierten, extremen Rechtstheorie gilt Kant.
Er erklärt das Glückseligkeitsprinzip für verderblich und verwerflich, weil es, wie man am Polizei-
staat sieht, zur Willkürherrschaft führen muss, denn der Souverän will das Volk nach seinen
Begriffen glücklich machen und wird zum Despoten, das Volk aber, das sich den Anspruch auf
eigene Glückseligkeit nicht nehmen lassen will, wird zum Rebellen. Er definiert den Staat als ‚die
Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen‘‘;#?) das Gesetz habe nur den Zweck,
ein geordnetes Zusammenleben der Menschen zu gewährleisten.
Neben Kant treten noch zahlreiche hervorragende Schriftsteller jener Zeit energisch für
den Rechtszweck zur Bekämpfung des Polizeistaates ein, unter ihnen Fichte #2) W.v.Hum-
boldt®), A. Feuerbach®). Letzterer sagt:*) „Wir treten in den Staat nicht um der Glück-
seligkeit, sondern um der Gerechtigkeit willen. ..... Denn Glückseligkeit kann nie der Zweck
einer bürgerlichen Gesellschaft sein, weil sie nie diesen Zweck erreichen kann.“ Humboldt
betont besonders die durch den Staat nach allen Richtungen zu gewährende Sicherheit. Erwähnt
sei ferner Th. Schmalz:”) „Die Sicherheit ihrer angebornen und erworbenen Rechte vereinigt
die Menschen in bürgerliche Gesellschaft. Die Sicherheit ist der einzige Zweck dieser Gesellschaft.‘
Nach Zachariae®) sollen die Menschen trachten, dass Gerechtigkeit unter ihnen herrsche.
Aretin) erklärt, Rechtsherrschaft und Wohlfahrt seien zwei Staatszwecke, die einander auf-
heben, man könne also nicht beides vom Staate verlangen. „Die Rechtsherrschaft vom Staate
#2) Metaphysisohe Anfangsgründe der Rechtslehre. $ 45.
%) Grundlage des Naturreohts nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. (1796). I. Teil, III. Haupt-
stück 3. Kap. $ 16,
%) Ideen zu einem Versuche, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen,
5) Anti-Hobbes, oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsreoht der Bürger
gegen den Oberherrn. (1797).
s) Anti-Hobbes. S. 74.
#) Erklärung der Reohte des Menschen und Bürgers. (1798) S. 114f.
s) Vierzig Bücher vom Staate. L (1820) S. 212 vergl. ferner S. 230 £f,
“) Stasterooht der konstitutionellen Monarchie IL, 1. (1827) 8, 178 £.