64 Hans v. Frisch, Die Aufgaben des Staates in geschichtlicher Entwiekelung.
In dem weiten und unbestimmten Begriff der Kulturförderung scheint mir ein doppeltes
zu liegen. Man muss einen engeren Begriff der Kultur annehmen und ihm den der Zivilisation
gegenüberstellen. Gerade für die Feststellung der Staatszwecke ist diese Scheidung notwendig,
denn zivilisatorisch kann der Staat direkt wirken, während er für die Kultur im engeren Sinn nur
indirekt tätig werden kann.
Dass Kultur und Zivilisation nicht identisch sind, ergibt sich bei näherer Betrachtung von
selbst, wenn die Worte auch im gemeinen Sprachgebrauch oft promiscue gebraucht werden.®)
Den Unterschied zwischen ihnen möchte ich nun in folgendem sehen.®) Zivilisatorische Tätigkeit hat
die Vervollkommnung und Beherrschung der Aussenwelt zum Gegenstand, also zivilisiert ist ein
Staat, der moderne Verkehrsmittel hat, Institute und Anstalten, die den Anforderungen der Zeit
entsprechen, der nach einem geordneten Rechts- und Finanzsystem verwaltet wird, den natio-
nalen und internationalen Forderungen in bezug auf Handel und Industrie nachkommt, usf. Anders
der Inhalt des Kulturbegriffes, der nicht leicht zu fassen ist. Namentlich die Aufzählung jener
Qualifikationen, die einem Kulturmenschen oder Kulturvolk eigen sein müssen, um als solches
zu gelten, wäre nicht leicht vollständig zu geben. Nur allgemein wird man behaupten können,
dass zum Begriff der Kultur ein gewisses Mass allgemeiner und ethischer Bildung gehört; im übrigen
wird man bei der Feststellung des Begriffes besser negativ vorgehen. Man wird einem Volk den
Charakter der Kulturnation absprechen, wenn es in Literatur, Kunst, Wissenschaft nichts
leistet, wenn es gewisse Sitten und Gebräuche hat, die uns roh und barbarisch erscheinen, wie
etwa grausame Strafen, und endlich werden zahlreiche soziale Erscheinungen uns für den Kultur-
grad eines Volkes massgebend sein wie z. B. mangelndes Rechtsgefühl, Korruption der Beamten,
grosse Zahl von Analphabeten, die Stellung und Behandlung der Frau in der Gesellschaft, und
vieles andere. Je nachdem nun, ob sich bei einem Volke mehr oder weniger die Merkmale vor-
finden, die wir als Elemente des Kulturbegriffes erkennen, werden wir in ihm eine Nation auf mehr
oder minder hoher Kulturstufe sehen. Die Grenze ist natürlich nicht scharf zu ziehen, denn es
handelt sich um Erscheinungen des Lebens, wo alle Grenzen fliessen; nur das Recht sucht nach
scharfen Grenzen.
Der moderne Staat nun hat sowohl zivilisatorische wie kulturelle Aufgaben; für die letzteren,
die höchsten, die es gibt, ist eine gewisse Höhe der Zivilisation erforderlich, sie ist die Vorbedingung
für jede Kultur.
Die zivilisatorische Tätigkeit der modernen Staaten ist ungeheuer gross. Die Staaten wett-
eifern miteinander, immer die neuesten Erfindungen und Entdeckungen, die im Interesse der All-
gemeinheit verwendbar sind, zu verwerten. Dabei handelt es sich für den Staat darum, jene Tätig-
keiten zu besorgen, die durch solidarisches Vorgehen zweckmässiger erfüllt werden als durch indi-
viduelle Tätigkeit. Briefe befördern, Eisenbahnen anlegen, Versicherungsanstalten errichten,
Schulen und Spitäler bauen, Seuchen vom Lande abhalten kann der Staat mit seinen starken
der König von Preussen im Namen des Norddeutschen Bundes, Seine Majestät der König von Bayern, ...... usw.
schliessen einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes
sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes.‘ Die Bundesverfassung der Seh weiz sagt in Art. 2:
„Der Bund hat zum Zweck: Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes gegen aussen, Handhabung von
Ruhe und Ordnung im Innern, Schutz der Freiheit und der Rechte der Eidgenossen und Beförderung ihrer ge-
meinsamen Wohlfahrt.‘
Auch einzelstaatliche Verfassungen heben bisweilen den Staatszweck hervor. Die meisten Worte darüber
macht wohl die französische Verfassung vom 4. November 1848, die im Namen des französischen Volkes
proklamiert: „La France s’est constituce en Röpublique. En adoptant cette forme döfinitive de gouvernement,
elle s’est propose pour but de marcher plus librement dans la soie du progrüs et de la oivilisation, d’assurer une re-
partition de plus en plus cquitable des charges et des avantages de la socicte, d’augmenter l’aisanse de chacun par
la r@duction graduce des döpenses publiques et des impöts, et de faire parvenir tous les citoyens, sans nouvelle com-
motion, par l’action successive et constante des institutions et des lois, & un degrö tonjoure plus ölevs de moralit£,
de lumicres et de bien-ütre.“
#) Die französische Sprache kennt den Ausdruck „oulture‘“ in der übertragenen Bedeutung nicht, sie
verwendet für beide Bogriffe das Wort „civilisation‘.
®) Vergl. darüber meine näheren Ausführungen in der Zeitsohrift für Politik, I. S. 234 ff.