7. Abschnitt.
Entstehung und Untergang der Staaten.
Von
Geh. Justizrat Dr. $S. Brie,
o. Professor der Rechte an der Universität Breslau.
I. Allgemeines. Il. Tatsächliche Entstehung von Staaten. Ill. Tatsüchlicher Untergang von
Staaten. IV. Rechtliche Entstehung von Staaten. Y. Rechtlicher Untergang von Staa
Literatur:
HugoGrotius, De iure belli ao paeis, Lib. II cap. 9 (Quando imperis vel dominie desinant);
1. Lib. III cap. 8 (De imperio in vietos), — RobertvonMohl, Encyklopa ie der Staatewissenschaften,
13 (S. 84—97): Von der Entstehung der Staaten; vgl. $ 22 (S. 158—169): Von Änderung und Untergang der
tasten. — Bluntschli, Lehre vom modernen Staat. Erster Teil, Allgemeine Staatslehre (1875), Viertes
Buch (S. 298—344): Von der Entatehung und dem Untergang des Staates. — Re h Ari Allgemeine Staatslehre,
Zehnter Abschnitt (S. 266—285): Entstehung und Entwickelung des Staates. — J e ek, Das Recht des mo-
dernen Staates. Band 1, Allgemeine Stastslebre (1900), Neuntes Kapitel (S. 228), Entstehung und 1 Untergang
der Staaten; vgl. Siebentes apitel (S. a Bon: I Die Lehre von der Rechtfertigung des Staa Richar
Sohmid ; Aligemeine Staatslehre, Bd. 1 $$ 14—16 (S. 116145); vgl. Bd. 2 Teil 1 und 2: Die v verschiedenen
Formen der Stastebildung. — EduardMeyer, Geschichte des Altertums, Erster Band, erste Hälfte, 3. Aufl.
1010, 1(S, 3-86): Die staatliche und aoziale Entwicklung (bes. $8 2—13, S. 535).
I. Allgemeines.
1. Der Mensch ist seiner Natur nach ein [üov noAtrıxdv, ein staatliches Wesen: das staatliche
Zusammenleben ist für die Menschen ein allgemeines vernünftiges Bedürfnis, und ein ihnen inne-
wohnender Trieb führt, unbewusst oder bewusst, zur Befriedigung dieses Bedürfnisses. Die konkreten
Gestaltungen aber, in denen dieses Bedürfnis und dieser Triebsich verwirklichen, unterliegen nicht nur
nach ihrer Beschaffenheit, sondern auch in ihrem Dasein dem Wechsel im Laufe der Zeit. Von der
Entstehungeines Staates sprechen wir, wenn zwischen einer Gruppe von Menschen dem Staats-
begriff gemässe Beziehungen sich bilden; ein Staat ist untergegangen, wenn solche bisher
zwischen einer Gruppe von Menschen vorhandene Beziehungen aufgehört haben zu bestehen.
2. Die Beantwortung der Frage, ob im einzelnen Falle ein neuer Staat entstanden oder ein
bisheriger Staat untergegangen ist, bietet grosse Schwierigkeiten nach verschiedenen Richtungen.
Zunächst ist eine sichere Feststellung der äusseren Vorgänge, um deren Charakterisierung es sich
handelt, selbst wenn diese sich im Lichte der Geschichte vollzogen haben, vielfach schwierig; in
betreff der Entstehung der ältesten Staaten sind wir sogar auf blosse Hypothesen angewiesen.
Sodann führen die überaus verschiedenen Auffassungen des Staatsbegriffs, vor allem die weit aus-
einandergebenden theoretischen Ansichten über das den Staat von den übrigen menschlichen Ver-
bänden unterscheidende spezifische Merkmal, häufig zu entgegengesetzten Entscheidungen der
Frage, ob in dem konkreten Falle ein Staat entstanden bezw. untergegangen ist. Wer etwa das
Vorhandensein eines Gebiets nicht als wesentliches Erfordernis des Staatsbegriffs anerkennt, wird
die Bildung eines Staats als vollendet, einen bisherigen Staat als fortdauernd ansehen, wo wegen
mangelnden Gebietes die vorherrschende Lehre zu der gegenteiligen Auffassung führt. Je nachdem
man Souveränität oder Ursprünglichkeit der Herrschaft oder allseitige Zuständigkeit
für das eigentümliche Moment des Staatsbegriffs erachtet, gelangt man naturgemäss zu sehr ver-
schiedenen Ergebnissen hinsichtlich des Staatscharakters zahlreicher konkreter Gebilde, z. B. der
deutschen Einzelstaaten, der britischen Charterkolonien. Dazu kommt die schwierige
Frage, wie weit Abweichungen von einem begriffsmässigen Erfordernis des Staatsbe-