Eduard Hubrich, Die Stastsformen. 79
I. In den modernen Kulturstaaten ist, — der Regel nach — den Beziehungen der Staats-
gewalt zu den Staatsgliedern auch insofern eine verschiedene Grundordnung gegeben, als dabei
weiter zum Begriff der „Nation“ in doppelter Weise Stellung genommen ist. Mit Rücksicht hier-
auf lassen aich die beiden Stastsformen des „Nationalstaats‘‘ und des „national-gemischten Staats“
(im Rechtssinne) anführen.
„Nation“ ist an sich eine aus Blutsgemeinschaft sich herleitende Sprach- und Kulturgemein-
schaft. Diese Definition betrachtet die Blutsgemeinschaft wohl als das Urelement der Nation,
lässt es aber andererseits auch zu, dass an sich Blutsfremde einer bestimmten nationalen Sprach-
und Kulturgemeinschaft selbst sich eingliedern. Die Nation braucht mit dem Staatsvolk nicht
zusammenzufallen; ein Staatsvolk kann mehrere Nationen in sich schliessen. Die Staatsform
„Nationalstaat‘ liegt aber dann vor, wenn ein bestimmter Staat seine öffentliche Rechtsordnung
in eine entscheidende Rechtsbeziehung zu einer bestimmten Nation bringt, insbesondere dadurch,
dass er die Sprache der Nation zur Staatssprache im Rechtssinne erhebt. Ist in dem Staat das
Staatsvolk aus mehreren Nationen zusammengesetzt, so geschieht solches natürlich auf Kosten
der übrigen Nationen. Zur Staatssprache im Rechtssinne wird aber die Sprache der betreffenden
Nation: a) wenn die letztere den Staatsorganen zum Sprechen im Verkehr nach innen mit ihren
gleichen und im Verkehr nach aussen mit den Untertanen schlechthin vorgeschrieben wird;
b) wennes wenigstens als Grundsatz vorgeschrieben wird, dass die Staatsorgane in
dieser Weise der fraglichen nationalen Sprache sich bedienen sollen und ihnen also ausnahmsweise,
unter besonderen Verhältnissen, auch noch das Sprechen in der Sprache einer anderen nationalen
Bevölkerungsgruppe nachgelassen oder anbefohlen wird. In den Begriff der Staatssprache als der-
jenigen Sprache, welche der Staat d.h. die Organe desselben sprechen, fällt es dagegen an und für
sich nicht, dass das „Anhören“ der Untertanenschaft von seiten der Staatsorgane i in , der nämlichen
Sprache zu erfolgen hat. Doch haben manche Nationalstaaten, welche eine bestimmte nationale
Sprache als Staatssprache erkoren haben, zugleich vorgeschrieben, dass auch das Publikum,
wenn es mit den Staatsorganen in Verkehr tritt, oder auf dem Gebiet des öffentlichen Lebens („Ver-
eins- und Versammlungswesen‘“) sich bewegt, sich der eingeführten Staatssprache zu bedienen hat.
Sie haben also dem Rechtsbegriff „Staatssprache‘“ eine Ausdehnung gegeben, die weit über die rein
begrifflichen Anforderungen hinausgeht; sie durften dies tun, weil der Inhalt des Rechtsbegriffs
„Staatssprache‘“ ansich variabel ist, weil der letztere sowohl mit den rein begrifflichen Anforde-
rungen übereinstimmen, als hinter denselben zurückbleiben, als über dieselben hinausreichen darf.
Die Staatsform „national-gemischter Staat‘ ist dann gegeben, wenn die öffentliche Rechts-
ordnung eines Staats die mehreren nationalen Gruppen des Staatsvolks in ihren Beziehungen zur
Staatsgewalt als gleichberechtigt behandelt, sei es schlechthin, sei es wenigstens im Prinzip: ins-
Träger der Stastsgewalt ist zwar die „Nation“ d. h. die Gesamtheit der aktiven Staatsbürger. (Vgl. A. 1. V. 4,
XI. 1848: La souverainets reside dans l’universalitö des citoyens frangais; elle est inalienable et imprescriptible).
Aber es gibt des pouvoirs constitues, dans l’ensemble desquels ’exeroice de la souverainet£ röside (Hubrich.
Parlamentarische Redefreiheit und Disziplin S. 114f.): Senat und Deputiertenkammer, Präsident, Gerichte.
Den mit der Exekutive betrauten Präsidenten wählen — im Gegensatz zur unmittelbaren Volkswahl der V. 4. XI.
1848 — Senat und Deputiertenkemmer, zur Nationalvereammlung vereint, auf sieben Jahre, ebenso entscheiden
sie über eine Verfassungsrevision. Dazu Art. 2 G. 14. VIII. 1884: La forme röpublieaine du Gouvernement ne
peut faire l’objet d’une proposition de rövision; les membres des familles ayant rögn& sur la France sont ineligibles
& la Presidence de la Republique. Lebon V.R. der franz. R. 1908 S. 133 f., 200. Die „demokratische Tyrannis"
bestand in Frankreioh zur Zeit der beiden Kaiserreiohe. Der „nittelbaren Republik“ entspricht i in Wirklichkeit
auch Belgien mit seiner „parlamentarisch“ verfahrenden, Erbmonarchie
(Vgl. Errera St.R. des K. Belgien 1909 S. 36 £.). Der „König der Belgier“ ist nach V. 7. IL 1831 nur neben den
Kammern und den Gerichten zur Ausübung der Gewalten berufen, welche ömanent de la nation (a. 25 f.), und
besitzt keine anderen pouvoirs que ceux que lui attribuent formellement la Constitution et les lois partiouliöres
portees en vertu de la Constitution m&me (a 78). Gerade bei Feststellung der preuss. V. 31. I. 1850 ist von den
Revisionsksmmern mit voller Klarheit die Wesensversohiedenheit der eigenständigen preussischen Monarchie
vom belgisohen Königtum betont worden. Hubrioh in Z, f, Politik 1 8. 104 f.; Preuss. St.R. 1909 8. 82 f., 102, 126.