170 Peter Jessen, Kunstpflege und Kunsterziehung.
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5. Die Organe der Kunstpflege für die genannten Aufgaben sind, zum Glück
gerade in Deutschland, äusserst mannigfach. Das letzte Ziel ist, den guten Geschmack wieder,
wie vor alters, zu etwas Selbstverständlichem zu machen und auf allen Gebieten den Künstlern
freie Bahn zu schaffen. Das würde geschehen, wenn jede Instanz, die ihrem Tun einen sichtbaren
Ausdruck zu geben hat, für die richtig aufgefasste Kunst gewonnen wäre. Heute bauen Staaten und
Gemeinden, Landschaften und einzelne Behörden; es wäre weder möglich noch erwünscht, ihr Tun
zu zentralisieren. Ein Teil der Aufgaben der Kunstpflege berührt sich mit dem Unterricht und der
Wissenschaft; es ist deshalb verständlich, dass die oberste Verwaltung der Kunst den Unterrichts-
ministerien eingegliedert ist. In Frankreich bilden darin die Beaux-arts eine besondere, grosse Ab-
teilung; ja ım Jahre 1882 hat man es einige Monate lang mit einem eigenen Minister der schönen
Künste versucht. Die Interessen des Kunstgewerbes berühren sich andererseits vielfach mit dem
Gewerbe und sind deshalb an einigen Stellen, wenigstens nach der handwerklichen Seite hın, den
Gewerbeministerien zugewiesen. Dass die Pflege der Kunst an den öffentlichen Bauwerken sich
aus der staatlichen Bauverwaltung und den Ministerien der öffentlichen Arbeiten nıcht wohl ab-
zweigen lässt, braucht man nıcht zu bedauern, so lange diese Instanzen die künstlerischen Forde-
rungen der Zeit verstehen. Es bleibt jedoch zu erwägen, ob es noch zeitgemäss ist, dass alle Bauten
ausschliesslich oder überwiegend von den Baubeamten entworfen werden, oder ob nicht dıese wiıch-
tigsten und nachhaltigsten Ausserungen der Kunst eines ganzen Volkes mehr als bisher dem Wett-
bewerb aller künstlerischen Kräfte, der Auslese der Besten, zugänglich gemacht werden sollten.
6. Wenn bisher vorwiegend von den bildenden Künsten die Rede war, so liegt das daran,
dass diese der Öffentlichkeit die bedeutendsten Aufgaben stellen und deshalb das Ver-
suchsfeld für dıe ganze Kunstpflege geworden sınd. Für die Musık unterhalten einzelne Staaten
Lehranstalten wıe für die bildende Kunst; das Conservatoire de musique in Parıs datiert aus den
Jahren 1784 und 1792; in Berlin steht die Kgl. Hochschule für Musik neben der Hochschule für die
bildenden Künste; die grosse Mehrzahl der Konservatorien indes gehört Vereinen oder Privaten.
Mit dem Gesangs- und Musikunterricht in den Schulen beschäftigt sich neuerdings ein musikpäda-
gogischer Kongress. Dem Volksliede und dem volkstümlichen Chorgesang widmet der deutsche
Kaiser ein tätiges Interesse. Erfreuliche Aufnahme finden die vielerlei Bemühungen, den breiteren
Kreisen des Volkes gute Musik vorzuführen und nahe zu bringen.
Noch wird vorwiegend nur privat gefördert, was für die Schulung desrhythmischen Gefühls
in Musik und Tanz von verschiedenen Seiten (Dalcroze, Isadora Duncan u. a.) begonnen worden Ist.
Man darf hier auch die Versuche zu einer künstlerischen Belebung der Gymnastik begrüssen.?®)
Die Kunst der Bühne liegt in Deutschland zum Teil noch in der Hand der Hotfverwaltungen
und ist der staatlichen Kunstpflege entrückt. Tatkräftig sorgt eine Reihe deutscher Städte für ıhre
Theater und versucht verschiedene Wege, um sie zugleich künstlerisch und wirtschaftlich zu sıchern.
Doch bedarf die Bühne des freien Spiels der Kräfte.
Die kleinste Angriffsfläche für die Kunstpflege bietet die Dichtkunst. Die Schulmänner haben
sich neuerdings vielfach mit der Behandlung der Dichtwerke in der Schule befasst.?!) In den Vorder-
grund aber rückt die Frage, wie sich gute und wohlfeile Literatur in das Volk tragen und der Schund
mit allen seinen Gefahren bei den ‚Erwachsenen und bei der Jugend bekämpfen lässt. Es ıst er-
freulich festzustellen, dass alle diese Probleme, die zum Teil hier nur angedeutet werden konnten,
nirgend gründlicher und begeisterter erörtert und in Tat umgesetzt werden als im heutigen Deutsch-
land. Unter den Vorkämpfern füreine künstlerische Kultur dürfen Dr. Ferdinand Avenarlus und seın
„Kunstwart‘“ nicht ungenannt bleiben.)
-»), 3. Kunsterziehungstag in Hamburg 1905.
-1) 2. Kunsterziehungstag in Weimar 1903.
°*) Weitere Literatur, die hier nicht mehr aufgeführt werden kann, findet man in der Bibliothek des
Kgl. Kunstgewerbe-Museums in Berlin.