87. Abschnitt.
Sittlichkeitspolizei.
von
Geh. Hofrat Dr. Karl von Lilienthal,
0. Professor der Rechte an der Universität Heidelberg.
Literatur:
Otto Mayer ın Stengel: Wörterbuch s. v. „Sittenpolizei“. Ferner die Lelir- und Handbücher des Ver-
waltungs- und Polizeirechts, die Wörterbücher des Verwaltungsrechts und der Staatswissenschaften sowie des
Polizeirechts. Ausserdem: Betmann: Die ärztliche Ueberwachung der Prostitution. Jena 1905. DBlaschko:
Hygiene der Prostitution. Jena 1900. Wolzendorf: Polizei und Prostitution. (Tübingen 1911.) Neher:
Die geheime und Öffentliche Prostitution usw. (Paderborn 1912) — Zeitschrift zur Bekämpfung der Ge-
schlechtskrankheiten, herausgegeben von Blaschko. Bd. 1ff (Leipzig 1903ff.) Albert Moll: Handbuch der
Sexualwissenschaften, Bd. I. (Berlin 1912.)
Die Aufgaben der Sıttlichkeitspolizei sind grundsätzlich keine anderen, wie die der Polizei
überhaupt, nämlich: ‚‚dıe nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und
Ordnung und zur Abwendung der dem Publiko oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehende
Gefahren zu treifen‘‘. So hat sie das Allgemeine Landrecht für die Preussischen Staaten (II, 17
$ 10) bezeichnet und dem haben sich die übrigen deutschen Gesetzgebungen ausdrücklich oder still-
schweigend angeschlossen. Es gehört also nicht dahin die Erziehung des einzelnen zu geschlecht-
licher Sıttlichkeit. Sie bildet zweifellos eine der Kulturaufgaben des Staates, die aber nur erfüllt
werden kann durch mittelbare Einwirkung: Sorge für sittliche Erziehung im allgemeinen und Aus-
schaltung der sozialen Misstände, die geschlechtliche Unsittlichkeit befördern. Im übrigen ıst das
Geschlechtsleben eine höchst persönliche Angelegenheit, mit der sıch Strafrecht und Polizei nur zu
befassen haben, soweit dadurch Rechte anderer Personen oder die öffentliche Ordnung verletzt
wird. Das ist der Fall, wenn Personen geschlechtlichen Wünschen anderer wider ihren Willen dıenst-
bar gemacht werden sollen durch Gewalt, Missbrauch des Ansehens, Betrug usw., oder wenn man
einen geschlechtlichen Angriff gegen Personen richtet, die wegen ihres jugendlichen Alters oder ıhrer
geistigen Minderwertigkeit eine zutreffende Vorstellung von der Bedeutung der Handlungen nicht
haben können, zu deren Vornahme oder Duldung sıe sich bestimmen lassen.
Weiter aber schützt der Staat nicht nur die Geschlechtsehre, sondern auch das zeschlechtliche
Schamgefühl gegen Verletzungen durch unzüchtige Handlungen im weitesten Sinne des Wortes.
Dahin ist auch die Bestrafung einzelner Betätigungen des Geschlechtstriebes zu rechenen, die nicht
eine Verletzung des Rechts der beteiligten Personen, wohl aber des allgemeinen Sittlichkeits-
bewusstseins darstellen, die so gross ist, dass sie dem durchschnittlichen Empfinden unerträglich
erscheint, so vor allem Blutschande und widernatürliche Unzucht. Die Strafwürdigkeit dieser
Handlungen, insbesondere die Betätigung homosexueller Neigungen wird bekanntlich neuerdings
heftig bestritten — ob mit Recht oder Unrecht, kann hier nicht untersucht werden.
Unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der öffentlichen Ordnung wird in einzelnen deutschen
Bundestaaten der Konkubinat mit Strafe bedroht. So ın Bayern, Württemberg, Baden, Hessen,
Braunschweig. Reichsrechtlich werden aus dem gleichen Grunde bestraft die aus Gewinnsucht
hervorgehende Unterstützung der Unzucht durch dritte Personen, namentlich durch Kuppelei und Zu-
hältertum, sowie die bewusste Reizung des Geschlechtstriebes durch unzüchtige Darstellungen
ın Wort, Schrift und Bild. Gerade die, kurz gesagt, Verbreitung unzüchtiger Schriften bereitet
praktisch erhebliche Schwierigkeiten. Das Geschlechtsleben kann nicht einfach totgeschwiegen
werden. Es bildet einen der wissenschaftlichen und künstlerischen Behandlung durchaus zugäng-
lichen Gegenstand. Der Staat könnte ohne eine Vergewaltigung der wissenschaftlichen und künst-