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Ludwig Pohle, Die Wohnungsfrage.
dass dabei vielfach der Anteil des Wohnungsaufwandes an den Gesamtausgaben steigt, — nach der
amtlichen Erhebung von Wirtschaftsrechnungen minderbemittelter Familien im deutschen Reiche
betrug der Wohnungsaufwand
ın der Einkommensstufe hei Arbeiterfamilien bei Beamten- und Lehrerfamilien
von 1200—1600 Mk. 16,8 % 20,5 %
von 1600—2000 Mk. 17,7 „ 18,5 ,,
von 2000-2500 Mk. 17,0 ,, 18,9 „,
von 2500—3000 Mk. 15,5 ,, 19,4 „,
von 3000-4000 Mk. 13,9 ,, 19,3 ,
— diese Erscheinung des relativen Wachsens des Anteils der Miete am Einkommen darf nicht,
wie das häufig geschieht, ohne weiteres als eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Mieter
gedeutet werden. Für die Beurteilung der Lage der letzteren kommt es weniger darauf an, wie sich
der Anteil der Miete am Einkommen entwickelt, sondern vielmehr hauptsächlich darauf, wieviel
der Mieter nach Deckung des Mietsaufwandes zur Bestreitung seiner sonstigen Bedürfnisse noch
übrig behält. In dieser Beziehung kann aber kein Zweifel bestehen, dass der Arbeiter in der Gross-
stadt, selbst wenn er da einen höheren Bruchteil seines Einkommens für Miete aufwenden muss als
ın kleineren Orten, sıch trotzdem ın der Regel ökonomisch besser stehen wird, weil er eben nach
Abzug der Miete ım ganzen mehr übrig behält als früher. Bei den wachsenden Mietausgaben ist
ferner zu berücksichtigen, dass sie häufig durch eine bessere Befriedigung des Wohnbedürfnisses
entstehen, indem dem höheren Mietaufwand auch eine grössere oder wenigstens eine besser ausge-
stattete Wohnung entspricht. Auch bei den Kleinwohnungen sind ın letzter Zeit dıe Ansprüche
an die Wohnung sehr erheblich gestiegen.'*) |
Das Wachsen des Volkswohlstandes, das allgemeine Vorrücken der Bevölkerung auf den
Einkommenstufen genügt indessen noch nicht, um eine durchgreifende Besserung der Wohnungs-
verhältnisse zu erzielen. Es gehört dazu auch Zunahme des Verständnisses für den grossen Wert
einer gesunden Wohnweise, es muss die Neigung weiter Volkskreise schwinden, gerade an der Woh-
nung zu sparen. Wenn die Wohnungszustände sich heben sollen, dann müssen nicht nur dıe Woh-
nungen besser werden, sondern auch die breite Masse der Bevölkerung muss anders denken lernen.
Insbesondere die von vielen Seiten erstrebte stärkere Dezentralisation der Städte, dıe alleın imstande
ist, den Grossstadtmenschen wieder der freien Natur näher zu bringen und ihnaus der Unruhe und
dem Lärm der Grossstadt herauszuführen, wird sich nur erreichen lassen durch das Vordringen einer
anderen Denkweise bei den Grossstadtbewohnern, die sie andere Ansprüche an ihre Wohnung stellen
lässt als heute. Die Gemeindeverwaltungen können durch eine grosszügige Eingemeindungspolitik,
durch Schaffung guter Verkehrsverbindungen, durch ihre Strassenbau- und Bodenpolitik etc. wohl
bessere Vorbedingungen hierfür schaffen, die Bewegung selbst aber muss aus der Initiative der
Grossstadtbevölkerung entstehen, indem sich diese viel mehr als bisher geneigt zeigt, an die
Peripherie der grossstädtischen Siedlungskreise zu ziehen.'”)
16) Vgl. z- B. die in der Zeitschrift für Sozialwissenschaft, N. F. 1. Jahrg. S. 52 hierzu mitgeteilten
Äusserungen aus Berlin.
17) Treffend auseinandergesetzt bei W.Gemünd, Die Grundlagen zur Besserung der städtischen
Wohnungsverhältnisse, Berlin 1913. Diese Schrift bietet eine eingehende Untersuchung über die Voraus-
Setzungen einer Dezentralisation der Städte nnd ihre Durchführbarkeit in Deutschland.