Einleitung. — Anzeigenaufnahme. 311
Charakter zu zeigen, und der Beamte findet Zeit, die Persönlichkeit zu prüfen.
Fährt man ihm zu zeitig dazwischen, so kann man sich leicht ein günstiges Beob-
achtungsfeld entziehen. Selbstverständlich sind die Lücken der Anzeige durch geeignete
Fragen zu ergänzen. Die Stichworte sind in das dem Beamten unentbehrliche
Taschentagebuch zu notieren. Es werden auch Anzeigen wider besseres Wissen er-
stattet; es hat jemand Geld verloren oder unterschlagen oder vertan und erdichtet
nun einen gegen ihn verübten Diebstahl; es hat jemand einen anderen körperlich
verletzt und kommt dem Verletzten in der Anzeigeerstattung zuvor, indem er sich als
im Stande der Notwehr handelnd hinstellt. Entsteht der Verdacht, daß eine Anzeige
wider besseres Wissen erstattet sei, so ist sowohl gegen den Angezeigten als auch
gegen den Anzeigeerstatter zu erörtern. Die je belastenden und je entlastenden
Punkte sind zusammenzustellen und am Schlusse vielleicht eine gegenseitige Abwägung
vorzunehmen. In zweifelhaften Fällen rechne der Beamte eher mit verschiedenen als
nur mit einer einzigen für richtig befundenen Möglichkeit. Gerade der Kriminal-
beamte wird zu oft gewahr, wie leicht der Mensch in einen Irrtum verfallen kann.
Er hüte sich deshalb in Zweifelsfällen vor einer zu zeitig und zu sicher vorgefaßten
Meinung, weil sie ihn die anderen Möglichkeiten übersehen läßt. Für jeden Finger-
zeig, den er in einer dunklen Angelegenheit von dritter Seite erhält, sei er dankbar.
Er weise nie einen Gedanken als ausgeschlossen von der Hand. Andererseits sei er
nicht unentschlossen, sondern versuche, sich von vornherein eine Meinung über den
Vorfall zu bilden.
Was die Formalität der Anzeigeerstattung anlangt, so hat jedermann das Recht,
strafbare Handlungen bei den Polizeibeamten zur Anzeige zu bringen (8 156 ff. der Straf-
prozeßordnung). Ob der Polizeibeamte oder die Polizeibehörde verpflichtet ist, die Anzeige
entgegenzunehmen und weiterzugeben, wird Frage des einzelnen Falles sein. Die Polizei
kann in den geeigneten Fällen den Anzeigeerstatter an die Staatsanwaltschaft oder an das
Gericht verweisen, an letzteres besonders, wenn es sich um leichte Körperverletzungen und
Beleidigungen handelt, welche im Wege der Privatklage zu verfolgen sind. In tat-
sächlich und rechtlich komplizierten Fällen, bei Bankerutt, Zuwiderhandlungen gegen
das Aktiengesetz (Handelsgesetzbuch) usw. wird man, wenn der Anzeigeerstatter nicht
schon aus eigener Entschließung schriftliche oder mündliche Anzeige bei der Staats-
anwaltschaft vorzieht, den Polizeibeamten für befugt erachten müssen, den Anzeige-
erstatter an den Staatsanwalt zu verweisen, wenn nicht die Vornahme sofortiger
Amtshandlungen, einer Verhaftung, Durchsuchung oder Beschlagnahme, dringend
erforderlich erscheint. Aber auch hier kann sich der Beamte, wenn er den Tatbestand
nicht übersieht, bei dem zuständigen Staatsanwalt oder den örtlich näheren Amts-
richter Rat erholen. In einfacheren Fällen wird der Polizeibeamte die Entgegen-
nahme von Anzeigen nicht ablehnen können, auch wenn keine Gefahr im Verzuge
ist. Es macht keinen günstigen Eindruck, wenn der Gendarm den Bauer, der vom
Rittergutsherrn mit der Peitsche über den Kopf geschlagen worden sein will, mit
der Anzeigeerstattung an den Staatsanwalt verweist. Es liegt hier ebensowenig
Anlaß dazu vor, wie wenn die Gegner bei einer gefährlichen Körperverletzung die