Full text: Handbuch für den exekutiven Polizei- und Kriminalbeamten.Zweiter Band. 1905. (2)

Benutzung der Presse. — Untersuchungsmethode. 335 
Leumunds des Beschuldigten, welche in der Frage gipfelt, ob ihm die Tat zuzutrauen 
ist. Charakter und Leumund werden erörtert durch Prüfung der Vorakten, Herbei- 
ziehung des Strafregisterauszugs, Befragung von Zeugen, welche geschäftlich und 
gesellschaftlich mit dem Täter zu tun haben, und von Amtspersonen. Man vergesse 
hierbei nicht, daß der Charakter des Menschen vielfach recht unberechenbar ist, und 
die Behauptung von Angehörigen oder Zeugen, dem Beschuldigten sei eine solche 
Tat nicht zuzutrauen, hinterher oft Lügen gestraft wird. Wer kennt den Beschuldigten 
in seinem Innern so genau, daß er dessen Handlungsweise voraussagen könnte? 
Hat nicht jeder Mensch in seinem Innern schlechte Triebe und Anfechtungen, deren 
Wirkungen er den Wahrnehmungen anderer zu verbergen weißß? Wer das Wesen 
des Menschen recht erkennt, wird sagen müssen: es gibt keine menschliche Tat, die 
einem Menschen ohne weiteres nicht zugetraut werden dürfte. Bezüglich der 
Sittlichkeitsverbrechen halte man fest, daß die Geschlechtlichkeit eines Menschen sich 
erst dann richtig beurteilen lassen würde, wenn man ihn in Befriedigung seiner 
Neigungen erst selbst einmal — was selten möglich ist — beobachtet hätte. Im 
Zustande großer Verzweiflung wird der Beste der schwersten Verbrechen fähig. 
Aussicht auf hohen Gewinn verblendet auch den Charakterfesten, wenn ihm günstige 
Gelegenheit geboten wird. 
Hatte der Täter ein Motiv für die Tat und kann sie ihm auch zugetraut 
werden, so hat er oft auch den Willen zur Tat durch Handlungen oder Aeußerungen 
ausdrücklich oder stillschweigend kundgegeben oder verraten. Der Brandstifter kündet 
es nicht selten vorher an, daß dieses oder jenes Haus usw. abbrennen werde. Ver- 
einzelt werden Drohbriefe geschrieben. Man hat also in der Umgebung des Täters 
oder des Verletzten nachzuforschen, ob jener sich irgendwie in dieser Richtung ver- 
dächtig benommen hat. Dabei sind ernstliche Willenserklärungen von bloßen Redens- 
arten oder Zufälligkeiten zu unterscheiden. 
Wenn hinsichtlich der vorerwähnten Punkte der Verdacht gegen eine bestimmte 
Person begründet oder aufrecht erhalten wird, so tritt man an die Frage heran, 
ob der Verdächtige die Tat auch verübt haben kann. Konnte er zur Zeit der Tat 
am Orte derselben sein? Kann er nachweisen, daß er anderswo war? — so- 
genannter Alibibeweis. Bei Prüfung des letzteren ist, wie bereits bei Besprechung 
der Zeugenvernehmung erwähnt wurde, mit großer Peinlichkeit die Befragung der 
Zengen hinsichtlich ihrer Anhaltspunkte für ihre Zeitbestimmungen zu bewirken. Da 
man Charakter und Motive fremder Menschen oft nicht ohne weiteres kennt oder 
klarlegen kann, so setzt man zweckmäßig in vielen Fällen mit der hier in Rede 
stehenden Frage nach der Möglichkeit der Täterschaft ein. Andererseits gestaltet 
sich diese Frage in einzelnen Fällen wieder anders. Soll jemand einen beleidigenden 
anonymen Brief geschrieben haben, so kommt nach der Erörterung des Motivs und 
Charakters zur Tat in Betracht, ob er den Brief selbst oder durch einen andern hat 
schreiben lassen usw. Bei der Frage nach der Möglichkeit der Täterschaft des 
Beschuldigten ist zugleich zu prüfen, wer sonst noch die Füglichkeit hatte, die Tat 
zu begehen. Wird beispielsweise in der Arbeitergarderobe einer Fabrik ein Porte-
	        
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