382 I. Der exekutive Kriminalbeamte.
verhältnisse verändern sich mit dem Wachstum des Merschen, die Zeichnung der
Linien bleibt ganz die gleiche. Die Papillarlinien überdauern auch den Tod, sie
verwischen sich erst mit der Zersetzung der Haut des Menschen. Künstliche oder
zufällige Beseitigung der Papillarlinien an Händen von lebenden Personen hat er-
geben, daß die Haut mit demselben Muster nachwächst. Eine bereits durch das
Fingerabdrucksystem aufgenommene und danach von einer anderen Behörde wegen
einer Straftat festgenommene Person würde also, wenn sie sich zur Vermeidung der
Wiedererkennung die Papillarlinien der Fingerbeeren beseitigt hätte, keinen Nutzen
von diesem Experiment haben, da die Haut in dem verräterischen Muster wieder
nachwächst. Im Besitze des k. k. naturhistorischen Hofmuseums in Wien befindet sich
eine Mumie, an deren Fingern man noch die Papillarlinien deutlich sehen kann. Selbst
an Leichen, die nicht zu sehr in Verwesung übergegangen waren, konnte das Muster der
Papillarlinien festgestellt werden. Aus diesem Grunde scheint das System auch zur
Identifizierung unbekannter Selbstmörder oder aufgefundener Leichen geeignet zu sein.
Die Agnoszierungs-Methode durch Fingerabdrücke ist übrigens keineswegs so
neu, wie mancher vielleicht glaubt. Bei den Chinesen und in Indien z. B. ist das
Fingerabdrucksystem schon lange Zeit in Gebrauch, und zwar nicht bloß, um Ver-
brecher ausfindig zu machen, sondern auch zu andern Zwecken, z. B. um öffentlich
Angestellte wieder zu erkennen, die entlassen sind und unter falschem Namen Wieder-
anstellung zu erlangen suchen. Die Pensionäre setzen anstatt der Unterschrift ihre
Fingerabdrücke als Zahlungsquittung unter das Schriftstück, und die zu Staats-
prüfungen erscheinenden Kandidaten legitimieren sich zur Verhinderung von Be-
trügereien durch ihre Fingerabdrücke. In der Türkei drückt der des Schreibens
Unkundige unter das von ihm zu unterschreibende Schriftstück das mit Sepiafarbe
oder Tinte benetzte oberste Glied seines Zeigefingers. In früheren Zeiten pflegten
übrigens auch in England die reichen Landbesitzer ihre Kontrakte und Pachtverträge
mit einem Abdrucke des Daumens auf Wachs zu beglaubigen.
Als Methode im Erkennungsdienst ist das Fingerabdrucksystem neuerdings bei
vielen Polizeibehörden Englands, Oesterreichs, Deutschlands usw. eingeführt worden.
Der Chef der Londoner Sicherheitsbehörde C. R. Henry hat sich be-
kanntlich ein großes Verdienst mit seinem vorzüglichen, auch in Oesterreich und
Deutschland angewendeten noch zu erwähnenden daktyloskopischen Registriersystem er-
worben. Während allerdings schon bei der in Deutschland bei verschiedenen Polizei-
behörden eingeführten Anthropometrie resp. Bertillonage Fingerabdrücke von Verbrechern
als Identifizierungshilfsmittel mit aufgenommen wurden, gebührt der Königl.
Polizeidirektion zu Dresden der Ruhm, die Daktyloskopie, dieses durch
Einfachheit und Sicherheit ausgezeichnete Verfahren, in der erprobten Weise des
Chefs der Londoner Sicherheitsbehörde in Deutschland eingeführt zu haben.
Im Königreich Sachsen wird das Fingerabdruckverfahren bei allen Polizei-
behörden, ausgenommen den Amtshauptmannschaften, Gemeindevorstehern, Guts-
vorstehern und der Landgendarmerie eingeführt; als spätester Termin ist der
1. Januar 1905 vorgesehen.