410 I. Der exekutive Kriminalbeamte.
Gewaltakten, Widerstand, Körperverletzung, Sachbeschädigung,
Brandstiftung, Mord und Verbrechen oder Vergehen wider die
Sittlichkeit.
Die vierte der sogenannten komplizierten Seelenstörungen bezeichnet Cramer
als degeneratives Irresein. Bei diesen Kranken lassen sich eine schwere
erbliche Belastung und eine Reihe körperlicher und geistiger Degenerationszeichen nach-
weisen. Schwere erbliche Belastung liegt vor bei Abstammung von hysterischem,
epileptischem, schwachsinnigem, alkoholistischem Elternteile. Körperliche Degene-
rationszeichen sind angewachsene Ohrläppchen, Mißbildung des Ohres, Unregel-
mäßigkeiten und Mißbildungen des Schädels, mangelhaft entwickelte Geschlechtsteile
und Mangel an deren Behaarung, Schielen und Stottern, Empfindlichkeit gegen
Alkoholgenuß, bis in die späteren Kinderjahre dauerndes Bettnässen, spätes Laufen-
lernen. Als geistige Degenerationszeichen gelten: lebhafte Phantasie und
Neigung zu Lügen in den Kinderjahren, Gewitterfurcht, Angst vor Tieren, Hang
zu Grausamkeit, Heftigkeit der Affekte, Auffälligkeit zur Zeit des Eintrittes der
Geschlechtsreife. Die geistige Befähigung kann bei all dem eine ausgezeichnete sein.
Der erwachsene Degenerierte zeichnet sich aus durch Unstetigkeit seines Tuns, krank-
hafte, nach Alkoholgenuß gesteigerte Erregbarkeit der Gemütsbewegungen und ein-
seitige, oft künstlerische Begabung. Die Einzelerscheinungen sind nach Art der
Melancholie, Manie und Paranoia. Seine moralischen Urteile sind häufig minder-
wertig, er leidet unter Zwangsvorstellungen, Zwangszuständen und Zwangsantrieben,
z. B. zu Diebstahl (Kleptomanie), zu Brandstiftung und Mord. Nicht
jeder Degenerierte ist aber geisteskrank; schwere erbliche Belastung
und Degenerationszeichen müssen zusammentreffen. Uebergangsformen
vom Unzurechnungsfähigen zum Zurechnungsfähigen sind diejenigen Individuen, welche
wir als moralisch und geistig minderwertig bezeichnen und denen wir bei der Straf-
zumessung durch Zubilligung mildernder Umstände gerecht werden.
Zu erwähnen ist hier noch das sogenannte neurasthenische Irresein.
Der Neurastheniker leidet an krankhaft gesteigerter Ermüdbarkeit und andauernder
chronischer Erschöpfung. Die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit nehmen ab,
Kopfschmerz, Kopfdruck, große Reizbarkeit treten auf. Der Laie nennt solche Kranke oft
schlechthin „nervös“. Aus diesem Zustande heraus kann sich leicht eine Seelenstörung
entwickeln, eine Hypochondrie, Melancholie, eine progressive Paralyse usw. Konflikte
der Neurastheniker mit dem Strafgesetze gehören nach Cramer zu den Seltenheiten.
Unter der Gruppe der sogenannten organisch bedingten Seelen-
störungen, zu deren Betrachtung wir uns zu wenden haben, ist die wichtigste
die progressive Paralyse der Irren (dementia paralytieca). Eine
der Hauptursachen dieser Krankheit ist eine vorausgegangene syphilitische Ansteckung,
wennschon nicht jeder, der syphilitisch gewesen ist, an Paralyse zu enden braucht.
Aber auch nach schwerem Trauma (siehe oben), nach Ueberanstrengung im Beruf,
schwerem Kampfe um das Dasein entwickelt sich Paralyse. Die Krankheit beginnt
mit einem Nachlassen der früheren geistigen Spannkraft, Gedächtnisschwäche und