Full text: Handbuch für den exekutiven Polizei- und Kriminalbeamten.Zweiter Band. 1905. (2)

432 II. Der exekutive Polizeibeamte. 
wert, daß auch die Polizeibehörde der Forderung der Gegenwart nach Milde und 
Individualisierung ihrer in der Strafverfügung auszuwerfenden Strafen nach- 
kommt. Ein Arbeiter oder unvermögender Lehrling, der mit dem Fahrrad ohne 
Laterne fährt, kann nicht mit der gleich hohen Geldstrafe belegt werden, wie ein 
Fabrikbesitzer, vermögender Student usw. Auch die Jugendlichkeit des Täters hat 
Einfluß auf die Strafhöhe zu üben. Eine Erörterung der Schuldfrage gleich in 
der ersten Polizeianzeige schließt auch Bestrafungen aus, welche auf eingelegten Ein- 
spruch die Polizeibehörde wieder zurücknehmen muß oder welche zur gerichtlichen Frei- 
sprechung führen. 
2. Unter welchen Voraussetzungen wird das Streikposten- 
stehen strafbar? 
In der sozialdemokratischen Presse finden sich fortgesetzt Mitteilungen darüber, 
daß Parteigenossen wegen Streikpostenstehens von der Polizei oder den Gerichten in 
Strafe genommen worden seien. Dieses Verfahren wird als den Gesetzen und der 
Rechtsprechung zuwiderlaufend bezeichnet, weil in § 152 der Reichsgewerbeordnung 
alle Verabredungen und Vereinigungen gewerblicher Arbeiter zur Erlangung günstiger 
Lohn= und Arbeitsbedingungen für straflos erklärt worden seien und deshalb auch 
das Reichsgericht ausdrücklich anerkannt habe, das Streikpostenstehen sei zulässig und 
könne nicht bestraft werden. Da nun die Behauptungen der Arbeiterpresse, wie 
gezeigt werden soll, zum mindesten auf ungenauer Kenntnis beziehungsweise auf 
Mißverständnis der Gesetze und insbesondere der herangezogenen Entscheidung des 
Reichsgerichts beruhen und das Mißverständnis übrigens auch in anderen Köpfen 
Platz gefunden hat, so ist es für den Polizeibeamten von Wichtigkeit, zu 
wissen, ob und wann das Streikpostenstehen strafbar werden kann, und den Inhalt 
der mehrerwähnten Reichsgerichtsentscheidung vom 4. Februar 1901, 
abgedruckt im 34. Bande der Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, 
Seite 121 flg., kennen zu lernen. 
Der Senat der Freien und Hanfestadt Lübeck hatte unter dem 21. April 1900 
nachstehende Verordnung, betreffend das Verbot des Streikposten- 
stehens, erlassen: „Personen, welche planmäßig zum Zwecke der Beobachtung oder 
Beeinflussung der Arbeiter einer Arbeitsstelle oder des Zuzugs von Arbeitern zu 
einer Arbeitsstelle an einem öffentlichen Orte sich aufhalten, werden mit 
Geldstrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft bestraft.“ Diese Verordnung war nach 
einer vom Lübecker Senat nachträglich abgegebenen amtlichen Erklärung zum 
Schutze des Verkehrs und der Ordnung in der Oeffentlichkeit 
beschlossen worden, weil im Laufe vorhergehender Jahre bei Ausständen und 
Ausstandsversuchen das Aufstellen von Streikposten regelmäßig zu schweren Aus- 
schreitungen auf den Straßen und im öffentlichen Verkehre geführt hatte. 
Demgegenüber führt das Reichsgericht zunächst aus, daß dieser 
eben geschilderte Zweck erst nach Erlaß der Verordnung durch jene amtliche
	        
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