Full text: Handbuch für den exekutiven Polizei- und Kriminalbeamten.Zweiter Band. 1905. (2)

446 II. Der exekutive Polizeibeamte. 
dem im Freien arbeitenden Manne schwer entbehrlich sein. Auch daß Branntwein, 
bei schwerer Arbeit, in gewisser Regelmäßigkeit genossen, die Spannkraft er- 
höhen kann, ist richtig. Mit der Zeit machen sich aber dann auch die nachteiligen 
Wirkungen des regelmäßigen Branntweingenusses auf Körper und Geist fühlbar: 
vor allem wird der Mensch gegen andere, insbesondere geistige Anregungen un- 
empfindlich. Das ist eine schwere Schädigung des Volkskörpers. Man sieht also, 
es wird ein Unterschied zu machen sein zwischen verbotenem Branntwein= und 
Bierschank. 
Wenn nun Bier und Branntwein für gewisse Schichten des Volkes als 
Genußmittel nicht zu entbehren sind, so wird verständlich, daß der Geschäftsmann, 
bei welchem der Arbeiter seine übrigen Lebensbedürfnisse einkauft, besonders der 
Materialwaren= und Viktualienhändler, bestrebt sein wird, Bier und Branntwein 
zum sofortigen Genusse zu bieten. Der Arbeiter ist durch seine lange Arbeitszeit 
an bestimmte, nahe der Arbeitsstätte oder am Wege zu ihr gelegene Verkaufsstellen 
gebunden; er ist, soweit Bier und Branntwein in Betracht kommen, auch nicht 
immer in der Kleidung, um in öffentlichen Restaurationen, wo auch noch andere 
Gäste verkehren, zu verweilen. Er wünscht also, in jenen erwähnten Geschäften 
auch Bier und Branntwein zum sofortigen Genusse zu erhalten, und der Geschäfts- 
mann, welcher seine Waren an die breiteren Schichten des Volkes absetzt, ist in keiner 
beneidenswerten Lage, wenn er diesen Wünschen nicht Rechnung zu tragen vermag. 
Der Arbeiter bleibt ihm fern und kauft seine sonstigen Waren da, wo er Bier und 
Branntwein zum sofortigen Genusse bekommt. Alles das ist also verständlich und 
durch die Verhältnisse erklärlich und bei Beurteilung der Straffälligkeit des Winkel- 
schankes nicht außer Acht zu lassen. Der Winkelschank ist für gewisse kleine 
Geschäftsleute eine Existenzfrage. Das hat zweifelsohne seine volkswirtschaftliche 
Bedeutung. Unter diesen Geschäftsleuten finden sich andererseits öfter solche, welche 
mehr= oder vielfach vorbestraft und zu faul sind, mit ihrer Hände Arbeit sich und 
ihre Familic zu ernähren. Da wird dann ein Viktnalienladen eingerichtet, wo man 
bequem hinter dem Ladentische sitzen kann. Daß auch bessere Charaktere, welche 
z. B. anderer Arbeit nicht nachgehen können, unter den Winkelschänkern sich finden, 
ist gewiß. 
Nun zeigen sich aber die Auswüchse des Winkelschankes. In dem kleinen 
Laden entzieht sich der Umfang des Ausschankes der Kontrole. Bier und Brannt- 
wein werden ebenso wie die sonst entnommenen Waren die Woche über bis zum 
Lohntage kreditiert. Der Konsument verliert leicht die Uebersicht seiner Verbindlich- 
keiten und wird durch Leichtsinn verleitet, Bier und Branntwein reichlich zu genießen. 
Ist dann der Lohntag da, so wandert ein erheblicher Teil des Lohnes in die Tasche 
des Geschäftsmannes, und Frau und Kinder werden benachteiligt. Oder es werden neue 
Schulden gemacht. Darin liegt aber der Anfang zur Zerrüttung des Familienlebens. 
Vielfach werden in der aus solchen Schankstätten mitgenommenen Angetrunkenheit 
auch strafbare Handlungen verübt. Es sollte also immer polizeilich mit 
erörtert werden, unter welchen Umständen der betreffende Ge-
	        
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